Michael Janßen ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Er hat sich vor 20 Jahren im Berliner Bezirk Neukölln niedergelassen und beschäftigt sich hauptsächlich mit Suchtmedizin. Er ist zudem im Co-Vorstand des Vereins Demokratischer Ärzte und Ärztinnen. Die soziale Situation vor Ort stellt sein Team oft vor besondere Herausforderungen.
Herr Janßen, Sie haben Ihre Praxis in Neukölln. Haben Ihre Patienten andere Probleme als zum Beispiel in Bezirken wie Zehlendorf?
Ja natürlich! Als erstes haben sie das Problem, dass sie hier kürzer leben. Die unterschiedliche Lebenserwartung zwischen Neukölln und Zehlendorf beträgt zwischen sechs und acht Jahren. Das ist schon mal ein Kernproblem. Dies bedeutet, dass die sogenannte Krankheitslast unserer Patienten viel höher ist als in anderen Bezirken. Das hat sozioökonomische Gründe.
„Die Krankheitslast ist bei uns höher“
Liegt das an der ärztlichen Versorgung im Bezirk?
Das liegt nicht an der ärztlichen Versorgung. Der erste Punkt ist die soziale Ungerechtigkeit beim Zugang zu Gesundheitsleistungen. Das hat die WHO schon vor vielen Jahren benannt. Es geht nicht nur um die Ärztedichte aller Fachrichtungen in einem Bezirk. Es geht um viele andere Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. Physiotherapeuten, häusliche Krankenpflege, Sozialarbeit und Beratungsleistungen vielfältiger Art.
Gibt es Patienten zweiter Klasse in Deutschland?
Der Begriff ist ja reserviert für die etwas überspitzte Bezeichnung der Zwei-Klassen-Medizin des Kassensystems. Im Sinne der gesetzlichen Krankenkassen, wo 90 Prozent der Patienten versichert sind, und den zehn Prozent der Privatversicherten. Ich würde es nicht Zwei-Klassen-Medizin nennen, aber es gibt ganz klar ein Gefälle hin zu den Menschen, die ein geringes Einkommen haben. Dies ist die entscheidende soziale Determinante, die Gesundheit und Krankheit beeinflusst.
Eine Studie aus Köln hat gezeigt, dass die soziale Situation eines Stadtteils und die Höhe der Inzidenz eng beieinanderliegen. Wie ist die Situation in Berlin?
Nach den Fakten, die mir bekannt sind, scheint es in Berlin ähnliche Auswirkungen zu haben. Wenn man die Zahlen nach Kiezen, Bezirken oder Quartieren aufschlüsselt, sind die Inzidenzen dort deutlich höher, wo die soziale Lage schlechter ist. Und die Inzidenzen sind dort deutlich niedriger, wo die sozialen Probleme geringer sind. Man darf aber nicht die Berliner Verwaltungsbezirke zugrunde legen, das ist sicherlich zu großräumig gedacht.
Wie haben Sie die Pandemie in Ihrer Praxis erlebt?
Wir haben die Praxis die ganze Zeit offengehalten. Seit Beginn der Pandemie leben wir quasi auf einem anderen Stern. Wir hatten wöchentlich neue Abläufe, neue Verfahren und Überlegungen anzustellen und durchzuführen. Das fing an mit der Frage, wie schützen wir uns selbst? Es gab am Anfang der Pandemie kaum Schutzmaterial. Das hat sich heute natürlich geändert. Dann der Abstand der Stühle im Wartezimmer, Spuckschutz am Empfang und ein Lüftungskonzept. Testen und Betreuung unserer Coronakranken kamen hinzu. Seitdem wir auch impfen sind wir als Praxis im Ausnahmezustand. Wir sind als Team alle sehr erschöpft von den Auswirkungen der Pandemie.
Gibt es Verständigungsprobleme mit Ihren Patienten? Neukölln ist ja ein sehr bunter Bezirk.
Natürlich. Das betrifft vor allem diejenigen, die einen schlechten sozioökonomischen Status haben. Menschen, die arbeitslos sind oder einfache Dienstleistungen verrichten und dadurch wenig Einkommen haben. Das sind ja auch die Menschen, die aus osteuropäischen Ländern einwandern oder die vor der Lage in ihrem Heimatland geflüchtet sind. Die Situation, dass jemand das deutsche Gesundheitssystem und die Sprache nicht versteht, ist häufig auch abhängig vom geringen Einkommen. Ein Einwanderer in Zehlendorf kann sich wahrscheinlich einen Dolmetscher leisten oder jemanden, der die Dinge für ihn regelt. Aber zur Verständigung: Versuchen Sie mal mit mittelmäßiger Bildung das Aufklärungsblatt für die Impfstoffe zu lesen, das ist schon schwer genug. Wenn sie nur gebrochen Deutsch können, dann sind sie aufgeschmissen. Das kann man sich natürlich alles in verschiedenen Sprachen von der RKI-Seite runterladen, aber viele Seiten sind in Deutsch gehalten.
Gibt es genug Impfstoff, und warum sind Impfzentren priorisiert worden?
Die Impfzentren sind der Rückhalt der Impfkampagne. Die müssen weiterarbeiten. Da wird eine große Menge an Impfwilligen bedient, parallel dazu müssen natürlich die Arztpraxen weiter impfen. Das ist eines unserer Kerngeschäfte, das machen wir jeden Tag. Es braucht die Parallelität für einen schnellen Erfolg der Impfkampagne. Da sollte man keine Konkurrenz aufmachen. Das Impfen in den Zentren ist ein Vielfaches teurer, ich denke so Faktor fünf bis zehn gegenüber einer Arztpraxis. Aber die Praxen werden es allein nicht schaffen, die Impfkampagne so weiterzuführen, wenn jetzt die Impfzentren wegbrechen würden.
Rechnet sich die Impfung für eine Hausarztpraxis?
Betriebswirtschaftlich gerechnet, ist es nicht rentabel zu impfen. Deshalb sind auch viele Kollegen und Kolleginnen nicht dazu bereit. Das ist ein grundsätzliches Problem in der ambulanten Medizin, dass wir nur für Leistungen sowie für Fälle bezahlt werden und nicht für eine bestimmten Daueraufgabe wie sie zum Beispiel Lehrer oder Feuerwehrleute erbringen. Die Impfung selbst bringt jetzt 20 Euro. Bei dem Aufwand, den wir dafür betreiben müssen, ist das betriebswirtschaftlicher Unsinn. Pro Tag müssen wir bis zu 50 Leuten absagen. Das Telefon steht nicht still. Eine Impfung, die wir durchführen, ist mit bis zu sieben Absagen verbunden. Der Zeitaufwand ist gewaltig, und da wird es dann unwirtschaftlich. Dazu kommt noch der bürokratische Aufwand, die Aufklärungsblätter, die wir aushändigen müssen, die Listen, die wir führen. Wir müssen ja auch immer zusammen sechs Leute einladen, ich muss ja aus einer Biontech-Flasche sechs Dosen entnehmen und in zwei Stunden verimpfen.
Was muss sich gesundheitspolitisch aus Ihrer Sicht ändern?
Es gab Pandemiepläne, aber die wurden nicht umgesetzt. Wir sind in diese jetzige Lage hineingerutscht. Es ist jetzt wichtig dass wir große Teile der Bevölkerung durchimpfen. Dass auch die Betriebsärzte mitimpfen und dass die Schwelle zum Impfen herabgesetzt wird. Die ambulanten Impfteams, die in die Kieze hineingehen und so auch sozial schwächere Menschen erreichen, das sind die richtigen Maßnahmen. Es hieß ja am Anfang auch immer, das Virus kennt keine Grenzen und keine Klassenunterschiede. Inzwischen wissen wir sehr gut durch Studien, dass die unterprivilegierten und einkommensschwachen Schichten deutlich stärker betroffen sind, sowohl von der Krankheit als auch vom Erreichen von wirksamen Schutzmaßnahmen wie der Impfung.
„Wir sind in jetzige Lage hineingerutscht“
Sie sind im Vorstand des Vereins Demokratischer Ärzte und Ärztinnen? Was unterscheidet den Verein von anderen Ärzte-Verbänden?
Der Verein Demokratischer Ärzte und Ärztinnen setzt sich seit 35 Jahren für demokratische Strukturen im Gesundheitswesen ein. Er war angetreten als es immer noch Altnazis an den Spitzen der ärztlichen Standesorganisationen gab. Wir sind damals in der Zeit der auslaufenden Studentenbewegung gegründet worden. Vieles hat sich auch bei uns mit den Jahren verändert. Heute ist unsere Kernidee: kein Kommerz mit der Gesundheit. Wir sind gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung im ambulanten und stationären Gesundheitssektor.
Wird sich die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen verschärfen?
Im stationären Bereich auf jeden Fall, trotz aller Gegenwehr. Wahrscheinlich auch im ambulanten Bereich, und das ist sehr traurig. Auch die Ökonomisierung im Gesundheitswesen wird sich verschärfen. Es wäre wichtig, dass es in naher Zukunft politische Kräfte gibt, die so eine Entwicklung zurückdrängen.