Im neu eröffneten „12seasons" zeigt Küchenchef Kamel Haddad, was er kann: Monatlich wechselnde Menüs mit europäisch-zeitgenössischer Aromatik auf die Teller bringen.
Hinter verschnörkelten schmiedeeisernen Terrassengeländern und markanten eckigen Laternen geht es zeitgenössisch zu: Straighte schwarze Tische und Sessel mit Spaghetti-Bändern laden zum Genuss einer der kulinarischen „12seasons" ein. Das gleichnamige Restaurant von Tim Hansen und Vitali Müller in dem denkmalgeschützten Jahrhundertwende-Gebäude hat etappenweise eröffnet. Seit Kurzem zeigt Küchenchef Kamel Haddad mit monatlich wechselnden Menüs, wie er seine zwölf kulinarischen Jahreszeiten europäisch-modern interpretiert.
Der Weg zur Eröffnung war lang und hindernisreich. Nicht allein durch Corona. Die Inhaber Tim Hansen und Vitali Müller führten zuvor erfolgreich ihr Restaurant „Neumond" in der Borsigstraße. Platz und Küchenausstattung langten aber auf Dauer nicht mehr. „Der Plan umzuziehen entstand vor Corona", sagt Tim Hansen. „Wir wollten Kamel die Möglichkeiten bieten, sich in einer offenen Küche mit seinen Ideen besser zu entfalten." Charlottenburg als Standort hatten Hansen und Müller erst gar nicht auf dem Plan. „Aber als uns der Makler dieses Lokal im September 2019 gezeigt hat, hat bei uns beiden der Bauch sofort ja gesagt."
Anfang 2020 schloss in der Giesebrechtstraße Vorgänger „Juleps" seine Pforten, im Mai 2020 planmäßig das „Neumond" in Mitte. Im Juni 2020 übernahmen Hansen und Müller in Charlottenburg. „Wir hatten den hehren Gedanken, im September 2020 zu eröffnen. Aber aus der Renovierung wurde eine Kernsanierung", sagt Hansen. Die Pläne zur Eröffnung des „12seasons" verschoben sich auf Mitte November. Da war aber coronabedingt alles schon wieder geschlossen. Also wurde der „Markt12" auf der Terrasse als Anlaufstelle für Feinkost zum Mitnehmen etabliert. Später gab es ebenfalls Menüs, die in ganz Berlin ausgeliefert wurden. Sechs Monate später erst konnte es losgehen. „Am 21. Mai wurde aus der Lockdown-Season eine Outdoor-Season", sagt Vitali Müller. Kurz darauf durften sie auch ihren Gastraum öffnen.
Bereit für ein edles Fünf-Gänge-Menü
In die Outdoor-Saison für den Juni steigen wir trockenen und warmen Fußes sowie bestgelaunt ein. Endlich wieder so richtig in einem Restaurant essen! Wir lassen uns von einem Crémant Bouvet Ladubay von der Loire fruchtig vollmundig anprickeln. Brot auf rosa Pfefferbeeren, Leinöl und Kräuterbutter in Mini-Gugelhupfform, von der die dekorativen Gräser auf der Terrasse mit ihren Spitzen auch naschen wollen, sind ein schöner Start in den Abend. Ein Fünf-Gänge-Menü ist bereits für uns am Entstehen. Das sehen wir bei einer kleinen Room-Tour.
Hansen und Müller entwickelten ihre Ideen für ihr neues Restaurant gemeinsam mit Neikes Architekturen. Eine messingfarbene Lochblechwand gleich hinterm Eingang ermöglicht ein Spähen in die offene Küche hinter einem umlaufenden Bar-Tresen. Die Stühle an den Tischen und an der Bar sind in Blau und Türkis gehalten. Der Teppich ist aus recycelten Fischernetzen „auch fürs gute Karma", wie Tim Hansen sagt, gefertigt. Wie Missoni-Muster breiten sich je nach Lichteinfall changierende Farbwellen auf dem Boden aus. Über dem Eingang zum Private Dining Room für bis zu acht Personen prangt „#juni" in Neonpink. Die durchsichtige Weinwand darunter wird mit den Flaschen von Michael d’Aprile von „Feine Weine" bestückt, mit dem das „12seasons" eng zusammenarbeitet. „Ja, wir wechseln jeden Monat", sagt Tim Hansen über den Neon-Schriftzug und die Weinbegleitung zu den Menüs. Charmant!
Den Juni legt uns Kamel Haddad als Spargel-Dreieck mit gebratenem Saibling und Erdbeerscheiben auf die Teller. Mehr Frühsommer und Verheißung geht nicht: Alles ist leichtfüßig harmonisch aufeinander abgestimmt. Insbesondere die schon vollaromatischen Erdbeeren passen unerwartet gut zum Fisch. Ein El Coto Rosado aus dem Rioja umschmeichelt Beere, Spargel und Fisch leicht, fruchtig und ein wenig mineralisch. Trinken wir weiter! Nein, das machen wir nicht.
Wir streifen an eine andere Stelle im Garten. Dort wurden Blumenkohl und Brokkoli geerntet. Sie verwandelten sich mit Unterstützung der Küchen-Crew teils geräuchert, teils pur in Creme, Flocken und Stücke. Dazu passt ein 2018er Grecante „Grechetto" Colli Martani von Arnaldo Caprai aus Umbrien mit seinen Aromen von Mirabelle und Quitte eindeutig besser. Die Texturen werden auf dem Teller kleinteilig durchgespielt. Besonderer Hinschmecker ist eine Maracuja-Hollandaise, die verblüffend gut das frische Grün-Weiß und eine Filoteig-Scheibe kontert. Zitrone für die Säure könnte jeder, sagt Kamel Haddad: „Ich wollte etwas anderes machen und habe danach gesucht, was passt."
Auch immer mehr Vegetarisches
Der gebürtige Pariser machte in Frankreich seine Kochausbildung, arbeitete dort ebenso wie in Prag. 2005 kam er nach Berlin. „Bristol", „Adlon", „Waldorf Astoria" und das Restaurant im „Hotel am Steinplatz" waren weitere Stationen. „Ich bin multikulti", sagt Haddad. „Meine Mutter ist Französin, mein Vater Algerier." „Kamels Radius reicht von Malmö bis Thessaloniki", ergänzt Tim Hansen. Im Team von Marcus Zimmer und Stefan Hartmann am Steinplatz holte sich Haddad schließlich den Schliff in der deutschen Casual-Dining-Küche. Seinen eigenen zwölf Jahreszeiten spürte er bereits seit 2019 im „Neumond" und nun eben im „12seasons" mit größeren Entfaltungsmöglichkeiten nach.
Weil für Haddad aus seiner südeuropäischen Perspektive bereits Kirschenzeit ist, dürfen diese sich bereits jetzt, wo die hiesigen noch am Rotwerden arbeiten, auf den Tellern niederlassen. Frisch aufgeschnitten gesellen sie sich zu einem umamivollen, edel schimmelnden Saint Agur, zu Senfcreme, Zimteis sowie einem intensiven Balsamico. Dazu gibt’s einen zehn Jahre alten Tawny Port von Taylor’s. „Das ist kein Gang für Ängstliche", meint die Begleiterin. „Ich habe Spaß daran." Ich auch. „Ich mache immer ein Käsedessert", sagt Haddad. Schlichte Käseteller seien nicht sein Ding.
Die Kombi aus intensiven Aromen, unterschiedlichen Texturen und Temperaturen regt den Gaumen nach einem zarten Kalb einmal mehr an, bevor aufs „richtige" Dessert umgeschaltet wird. Eine Navetten-Scheibe mit Blütenpollen und Kurkumaschaum, Grünspargel, Jus und allen voran ein Lakritz-Cappuccino machen rund um ein Stück Kalbsfilet auf sich aufmerksam. Es ist gerade ein Tick Süßholzwurzel wahrzunehmen; eben genug, um Kalb und Teller nicht in Sanftmut versinken zu lassen. Ein 2016er südafrikanischer „Big Easy" von Ernie Els verbreitet im Glas kräftige Noten von Kräutern, Zigarre und roter Kirsche, ohne aber nach Kamin und Ohrensessel zu verlangen.
Sie stehen nicht an vorderster Stelle auf der Karte, aber es gibt immer vegetarische Alternativen zu den Fisch- und Fleischtellern. „Unsere Karte wächst gerade noch", sagt Vitali Müller. „Wenn wir es vorher wissen, bekommen wir auch sechs vegetarische Gänge hin." Derzeit werden vier oder fünf Gänge für 59 und 69 Euro als Menü angeboten sowie einige einzelne Gerichte. Gerade innen wird sich noch einiges tun: Der Tresen ist tellerkompatibel breit gebaut. So kann künftig auch dort gesessen und gegessen werden. Das ist genau das Richtige, etwa nach einem Theater- oder Kinoabend, wenn’s noch ein Drink, Wein und ein, zwei Kleinigkeiten sein dürfen.
Ein gut gereifter Wein zum Dessert
„Ich steh’ ja auf Gemüse-Desserts", entfleucht es mir, als die Teller mit Fenchel in sämtlichen Formen und Texturen serviert werden. Curryschaum, Milchkaramell und Mangoeis setzen Akzente, die sich hervorragend mit chipsigen Fenchelscheiben und Baiser-Scherben ergänzen. Es ist ein großes und erneut leichtes Fest des Frühsommers. „Dazu gibt’s nichts weiter zu sagen." Das meint Tim Hansen, als er mit einer Halbliterflasche Süßwein an unseren Tisch tritt. Eine Cuvée von Pendits aus dem nordungarischen Tokaj durfte neun Jahre auf uns und das „12seasons" warten. Nun erweist der Weiße von Winzerin Márta Wille-Baumkauff gut gereift dem Dessert die Ehre.
Ein Mann am Nachbartisch verfolgt unser Gespräch. „Was fanden Sie am besten?" Ich spreche mich für den Blumenkohl-Brokkoli-Teller und das Fenchel-Dessert aus, die Begleiterin fürs Käsedessert und das Kalb. Wir geraten ins Plaudern, Erörtern und Einschätzen. Ob der Gast, der allein eingekehrt ist, aus der Nachbarschaft stammt? Gut möglich. Viele probier- und ausgehfreudige Charlottenburger wurden bereits in der „Menü-to-go"-Phase zu Stammgästen, verrät Tim Hansen. Das „12seasons" legt nun mit fein ausgearbeitetem Menü und Wein, stimmungsvoller Atmosphäre und durchdachtem Design einen verheißungsvollen Start „in echt" hin und dürfte bald noch viele weitere Dauergäste hinzugewinnen.