In der Murellenschlucht, im Schanzenwald und an der Fließwiese, ein zusammenhängendes Areal im Westen der Hauptstadt, finden Wanderer Ruhe in fast unberührter Natur.
Die bekanntesten Parks und Wälder Berlins, der Tiergarten, der Grunewald, der Treptower Park oder das Tempelhofer Feld, sind an Ausfallstraßen und innerstädtischen Magistralen gelegen und entsprechend gut und leicht zu erreichen. Für selten gewordene Pflanzen und Tiere ist es hingegen von Vorteil, wenn sie in Flächen und Nischen wachsen und leben können, die etwas abseits liegen, nicht ganz so bekannt, umständlicher zu erreichen oder unter Naturschutz stehen. Dazu gehören gewiss die Murellenschlucht, der Schanzenwald und die Fließwiese, ein zusammenhängendes Areal im Westen der Hauptstadt, zwischen Grunewald und Ruhleben gelegen. Nun trägt der Berliner bekanntlich gern ein bisschen dick auf, aber in diesem Fall darf er das, denn die Schlucht ist tatsächlich 30 Meter tief und der Murellenberg 60 Meter hoch. Die leicht hügelige Landschaft bildete sich hier vor 20.000 Jahren heraus. Es waren die gewaltigen Kräfte des Eises, die formten und schoben, was eben zu bewegen war. Beginnen wir aber lieber am seichten Ende der knapp zweistündigen Erkundung.
Europaweites Schutzgebietsnetz
Vom U-Bahnhof Ruhleben aus erreicht man in kurzer Zeit den kleinen Murellenteich, ein bescheidenes Gewässer, von Bäumen umstanden; das reicht schon, um dem Gewusel der Großstadt ein wenig zu entfliehen. Der Teich, früher sogar als Badeanstalt genutzt, ist ein idealer Ausgangspunkt für einen Spaziergang entlang der Fließwiese, begrenzt zur einen Seite durch den Friedhof Ruhleben, zur anderen von stolzen, frei stehenden Mehrfamilienhäusern. Die Bezeichnung Wiese ist allerdings ein wenig irreführend. Trockenen Fußes quert man hier keine weite Rasenfläche. Im Gegenteil: Die Fließwiese ist ein herrliches Stück nahezu unberührter Natur, feucht, matschig, nass. Hier kommt man nicht durch und darf es auch nicht. Immer wieder sind zwischen den Gehölzgürteln aus Erlen, Eschen und Ahorn offene Wasserflächen zu entdecken, die für selten gewordene Tiere wie den Moorfrosch und streng geschützte Libellenarten einen idealen Lebensraum bieten. So soll es auch bleiben. Die Fließwiese gehört zum europaweiten Schutzgebietsnetz „Natura 2000", das Lebensräume und Arten schützen und die biologische Vielfalt erhalten soll. So wurden hier schon wieder Kraniche und Graugänse gesichtet. Früher war diese abflusslose Senke durch einen Graben mit der Spree verbunden, später schüttete man die Verbindung für den Straßenbau einfach zu. Dennoch gibt es genug Wasser und Sumpfgebiete. Im Frühsommer sind die freien Flächen fast vollständig von der kleinen Wasserlinse bedeckt, einem grünen Teppich gleich.
Zum Ende der Fließwiese verengt sich das Tal. Ein steiler Weg führt nun oberhalb in den Schanzenwald, in dem Reste von Wällen, Gräben und Schießplätzen zu erkennen sind. Dieses Gebiet wurde lange Zeit militärisch genutzt. 1840 errichtete hier das preußische Kommando Kasernen und Übungsplätze, und bis zum Abzug der Alliierten 1994 übten die Briten auf den Schießanlagen. Nebenan ein umzäunter Teil des Ruhlebener Polizeigeländes, auf dem hinter Bäumen und Buschwerk einige Gebäude der „fighting city" zu erkennen sind. Auch Spezialkräfte müssen hin und wieder üben, wie Häuserblocks durchkämmt oder gestürmt werden sollen. Der rein militärische Bereich wurde vor zehn Jahren abgerissen, neue Wege wurden angelegt und dieses Gebiet der Öffentlichkeit übergeben. Die Natur dankt es. Die Waldanlagen und wertvolle Trockenrasenflächen können sich seitdem auf natürliche Weise entwickeln, an manchen Stellen sind sie geradezu einem Urwald ähnlich. Zwischen Kiefern und in dieser Gegend eher seltenen Eichen bieten sich selbst überlassenes Totholz und Baumhöhlen Schutz und Lebensraum für Buntspechte und Singvögel. Nur selten begegnet man anderen Spaziergängern, Frühlingsgezwitscher ist allüberall. Hier ist es still und einsam. Die Steilhänge mit ihren halb verschatteten weiten Sandflächen laden zu besinnlicher Rast ein, der Blick geht hinauf zu schwankenden Baumkronen vor weiß-blauem Himmel. Wenn die Dämmerung hereinbricht, streifen Rotfüchse, Rehe und Wildschweine durch das dichte Unterholz
Die Murellenschlucht, der man sich nun von hier aus nähert, wurde wie das gesamte Gebiet durch menschliche Eingriffe verändert. Eine Bahnlinie, die den Randbezirk Spandau mit der City verbindet und die mehrspurige, kilometerlange Heerstraße schnitten Wald, Schlucht und Fließ von den Ausläufern des Grunewalds ab. Und auch die nach antikem Vorbild gebaute Waldbühne, die für die Nazi-Olympiade von 1936 errichtet wurde und als Rampe für legendäre Open-Air-Konzerte dient, setzte man in den östlichen Teil der Schlucht. Aber all dies stört nicht, alles passt dann doch zusammen, ein natürliches, ein wenig vergessenes Stück Natur im Westen der Großstadt.
104 Spiegel mahnen mit Zitaten
In Berlin konzentriert sich deutsche Geschichte auf Schritt und Tritt. Nähert man sich vom S-Bahnhof Pichelsberg aus der Murellenschlucht, so irritieren am Rande der abwärts führenden Treppenstufen aufgestellte Spiegel den Wanderer. Sie gleichen jenen Verkehrszeichen, wie man sie von uneinsehbaren Kurven und Straßenkreuzungen her kennt. Es ist nicht mehr weit zu einem Ort schlimmer Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Zwischen dem 12. August 1944 und dem 14. April 1945 befand sich hier eine Hinrichtungsstätte, an der 232 sogenannte Fahnenflüchtige, Wehrkraftzersetzer und andere Opfer der Militärjustiz erschossen wurden. Obgleich die Rote Armee Berlin längst erreicht hatte, gingen die Exekutionen weiter, Morde, für die nach Kriegsende niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Ist es überhaupt möglich, die Gräuel der NS-Diktatur als lebendige, mahnende Erinnerung darzustellen? Man kann darüber streiten, ob es der argentinischen Künstlerin Patricia Pisani gelungen ist. 104 dieser Verkehrsspiegel wurden aufgestellt, verdichtet in unmittelbarer Nähe zur Erschießungsstätte. Eingravierte Texte sind auf den spiegelnden Flächen schwer zu lesen, weil sie vom Bild des angestrengt Schauenden, von den Bäumen und Ästen im Hintergrund überlagert werden. Ob der Betrachter einen banalen Verkehrsspiegel als Symbol für lauernde Gefahren im politischen Geschehen begreift? Kritik gab es 2002, als das umstrittene Kunstwerk aufgestellt wurde. Der härteste Vorwurf: Ein Denkmal zweiter Klasse sei dies, versteckt im Wald vor der Öffentlichkeit. Im Nachhinein mutet dieser Streit aber arg akademisch an. Wer heute diese Spiegelinstallation betrachtet, die Zitate entziffert, umgeben von stummen Bäumen in der Stille dieses einsamen Ortes, der wird das Bedrückende und das Entsetzliche dieser Verbrechen wahrnehmen, viel stärker vielleicht als bei der Betrachtung bekannter Kranz- und Mahngebinde an festgelegten Gedenktagen.
Der Frühling ist eine kraftstrotzende, bunte, tönende Jahreszeit. In der Murellenschlucht tritt er zurückhaltend auf. Stiller, sanfter, friedlicher. Er weiß, welchen Ort er mit neuem Leben füllt.