Das grenzüberschreitende EU-Projekt „Lebensspur Lech" führt Ruhesuchende entlang des Flusses Lech nach Füssen im Allgäu, Holzgau in Tirol und zu den Lechtaler Auszeitdörfern.
Wild und ungezähmt sucht sich der Lech seinen Weg von seiner Quelle am Arlberg in Österreich bis zur Mündung in die Donau. Vom Menschen fast unberührt, konnte er über alle Zeiten ein breites Flussbett mit mächtigen Kiesbänken und intakten Flussauen bilden. Das einzig Beständige ist seine Unbeständigkeit – er verleiht der Landschaft ein immer neues Aussehen. Trockenzeiten und Hochwasser bewirken, dass Flussarme austrocknen oder sich neue Wasserläufe bilden, Inseln entstehen und vergehen, mal zeigt er sich grau in grau, mal bahnt er sich fast himmelblau seinen Weg, bevor er nach rund 125 Kilometern die Grenzen des Allgäus quert, sich in Füssen mit gewaltigem Getöse über eine fünfstufige Kaskade zwölf Meter in die Tiefe stürzt und seinen Weg zur Donau durch eine enge Schlucht fortsetzt, die die gewaltigen Wassermassen im Laufe der Jahrtausende in den Fels gegraben haben.
Der Fluss bestimmt seit jeher den Rhythmus des Lebens der Menschen, Tiere und Pflanzen entlang seines Weges – er lehrt die Menschen Achtsamkeit, Demut, gibt Kraft und hilft heilen. Man muss dieser Lebensspur nur folgen, dann spürt man das am eigenen Leib.
„Man kommt als ein anderer an"
Genau diese Überlegung liegt dem grenzüberschreitenden EU-Projekt „Lebensspur Lech" zugrunde, das 2016 von den vier Partnern Lechweg, Füssen im Allgäu, Holzgau in Tirol und Lechtaler Auszeitdörfer auf den Weg gebracht wurde. Grundlage der 90 Kilometer langen Lebensspur bildet die Kneippsche Gesundheitslehre mit ihren fünf Säulen Wasser, Bewegung, Ernährung, Kräuter sowie innere Ordnung.
Was zunächst ziemlich theoretisch klingen mag, erschließt sich schnell, wenn man der Spur folgt. „Man kommt als ein anderer an als der, der man war, als man losging", sagt Stefan Fredlmeier fast philosophisch. Der Füssener Tourismusdirektor, der das auf langen Wanderungen entlang des Flusses selbst erfahren hat, war es auch, der die Idee für die „Lebensspur Lech" hatte. Warum nicht auf die Kneipp’schen Erfahrungen, die Heilkraft des Wassers und der Natur setzen, schlug er vor, und dabei dem Lech wie einem roten Faden folgen – vom Trubel zur Ruhe, vom lebendigen Füssen bis zur absoluten Ruhe der Tiroler Auszeitdörfer in den stillen Seitentälern des Flusses am „Ende der Welt".
Machen wir uns also auf den Weg. Füssen, gelegen an zwei Seen und beschenkt mit dem schönstem Alpenpanorama, bietet alles, um „runterzufahren": gute Luft, Wasser und Natur satt. Beste Bedingungen für die Umsetzung der Kneipp’schen Ideen, die hier eine lange Tradition haben. Doch Kneipp gilt bei vielen, insbesondere bei jüngeren Menschen, eher als antiquiert. „Wir wollen Kneipp entstauben und ins 21. Jahrhundert führen", sagt Fredlmeier, „und setzen auf die Balance von Körper, Geist und Seele, die heutzutage bei vielen Menschen aus dem Takt geraten ist. Immer im Hamsterrad, können sie nicht mehr abschalten, meinen, immer und überall erreichbar sein zu müssen, finden weder Ruhe noch Schlaf." Deshalb bietet Füssen jetzt nach einem dreijährigen Test gemeinsam mit der Ludwig-Maximilians-Universität München das Programm „Gesunder Schlaf durch innere Ordnung", das sich an Menschen mit lebensstilbedingten Schlafstörungen wendet. Hilfe bekommen die Ruhe Suchenden neben Therapeuten auch von speziell ausgebildeten und zertifizierten „Schlafgastgebern". Das sind Hotels, die besonders ausgestattete Gästezimmer haben, die den gesunden Schlaf fördern. Künftig soll das dreiwöchige Schlafprogramm auch von den Krankenkassen als Kompaktkur anerkannt werden.
Innere Ruhe breitet sich aus
Gut ausgeschlafen reisen wir weiter flussaufwärts nach Holzgau in Tirol. Der 420-Seelen-Ort gilt als die „Perle des Lechtals". „Hier gibt es weniger Lärm, Dreck, Partys, weniger Wirtschaft, Smog und Verkehr, dafür mehr unverbaute Landschaft, mehr Ruhe, mehr Natürlichkeit, mehr Distanz zur Hektik und mehr Gastfreundschaft", sagt Elmar Blaas, der nicht nur Wanderführer, sondern selbst leidenschaftlicher Gastgeber ist. Er nimmt uns mit auf den Vital- und Panoramaweg, der vor wenigen Wochen erst offiziell eingeweiht wurde. Rund zwei Stunden lang führt dieser drei Kilometer lange und 200 Höhenmeter überwindende Wanderweg über sanfte Bergwiesen, weiche Moosteppiche, durch einen 120 Jahre alten intensiv duftenden Fichtenwald, quert Bäche, bietet versteckte Ruhebänke, Trinkbrunnen, einen Waldbadeplatz, wo man sich ausstrecken und alle Viere gerade sein lassen kann. Vogelgezwitscher und das Plätschern eines Baches begleiten die Wanderer, ansonsten herrscht wohltuende Stille. Hier möchte man bleiben, man spürt förmlich, wie sich innere Ruhe ausbreitet und die Seele durchatmet. Am Ende des Weges erfährt man, wie das, was Kneipp mit innere Balance finden meint, auch ganz wörtlich genommen werden kann. Der Weg zurück ins lüftelbemalte idyllische Holzgau führt über die längste und höchste kostenlos zugängliche Hängebrücke Österreichs. Mehr als 200 Meter lang, quert sie die wildromantische Höhenbachtalschlucht. Bei den ersten Schritten auf der schwingenden Brücke rast das Herz und der Kreislauf signalisiert, dass er jeden Moment zusammenbrechen wird. Nur nicht runterschauen in die 110 Meter tiefe Schlucht, sagt das Teufelchen auf der linken Schulter, doch das auf der rechten flüstert: Mach’s, trau dich! Die Hände festgekrampft am Stahlgeländer, taste ich mich vorsichtig weiter – und dann passiert es: Ich schau in den Abgrund, die Knie sind butterweich, doch schon wenige Schritte später geht es sich leichter, ich finde meine Balance, und am Ende der Brücke macht sich so was wie ein Glücksgefühl breit. Ein Schlaflotse, wie zwei Tage zuvor noch in Füssen, ist in dieser Nacht überflüssig. Selbst der munter plätschernde Bach vorm Fenster wirkt eher einschläfernd und ist keine unangenehme Geräuschkulisse.
Doch was absolute Ruhe und Entspannung angeht, so weiß die „Lebensspur Lech" noch einen draufzusetzen: die Auszeitdörfer Gramais, Hinterhornbach, Kaisers und Pfafflar. Das sind vier winzige Orte in Seitentälern der Naturparkregion Lechtal, die sich dadurch auszeichnen, dass hier kaum Menschen leben, dass es nur eine minimale Infrastruktur gibt, keine Pisten, Lifte, Wellnesstempel oder Supermärkte. Sie verstehen sich als moderne Sehnsuchtsorte – und das nicht nur für Ruhe suchende Urlauber, sondern immer mehr auch für junge Leute, die nicht nur nicht mehr weg-, sondern gezielt herziehen. Wie die 38-jährige Claudia Lindner, die in Dresden aufwuchs und mit 15 eher durch Zufall ins Lechtal kam, sich sofort in die Region verliebte und heute mit ihrem Mann Hubertus, dem dreijährigen Darius und drei Huskys in Gramais, dem mit nur 48 Einwohnern kleinsten Ort Österreichs am „Ende der Welt" lebt. „Dieser Ort hat mich geerdet", sagt die Powerfrau, die als freischaffende Designerin arbeitet.
93 Menschen leben in dem Auszeitdorf Hinterhornbach, wo die Alten noch Geschichten von Menschen erzählen, die auf abenteuerlichen Wegen über die Berge Waren von und nach Deutschland schmuggelten. Heute zieht das Dorf eher Menschen an, die für eine Weile der Hektik des Alltags entfliehen wollen. Bei Norbert Lechleitner und seiner aus Münster stammenden Frau sind sie da in deren Pension „Hornbachstüberl" in den besten Händen. Tagsüber erkunden die Gäste die fast unberührt wirkende Natur auf langen Wanderungen, am Abend werden sie von ihren Gastgebern mit regionalen Gerichten verwöhnt. Im Sommer draußen auf der Terrasse, von wo aus man mit einem bisschen Glück ein fast kitschig schönes Alpenglühen auf den Berggipfeln beobachten kann und einen Sternenhimmel, wie er nur in Gegenden fern jeder Zivilisation zu sehen ist.
Seltene Tiere im Naturpark
In jedem Auszeitdorf gibt es einen besonders romantischen, abgelegenen Ort – ein Kraftplatz mit Ruhebänken und der Möglichkeit für Kneippanwendungen. Eine Besonderheit dieser Plätze ist auch, dass hier Pflanzen mit besonderer Heilkraft wachsen, auf die auch Sebastian Kneipp schon setzte. Johanniskraut zum Beispiel, das bei Depressionen hilft, Schafgarbe, die als Ölauszug gut gegen Schuppenflechte wirkt oder Augentrost, das die Augen beruhigt.
Viele seltene Pflanzen und Tiere leben am Lech, der ungezähmte Fluss gibt ihnen im 41 Quadratkilometer großen Naturpark Tiroler Lech Raum und Zeit, zu überleben und sich zu entwickeln. Sarah Lechleitner, die uns durch dieses Naturparadies begleitet, erzählt von vielen solchen Besonderheiten. Zum Beispiel, dass der glasklare, oft türkis schimmernde Fluss seine ungewöhnliche Farbe dem hohen Gehalt an feinst aufgelösten Mineralien im Wasser und seiner sehr niedrigen Temperatur verdankt. Oder vom seltenen Regenpfeifer, einem Vogel, der seine Eier zwischen den Steinen der Schotterbänke im Fluss versteckt. Der Lech und seine Auenwälder stellen auch für viele Pflanzen ein letztes Refugium dar, die einst in vielen Wildflusslandschaften weit verbreitet waren. Zu ihnen gehören die Licht liebende Deutsche Tamariske, die mit ihrer langen Pfahlwurzel den wilden Fluten des Lechs trotzt, der Gelbe Frauenschuh, die größte heimische Orchidee oder der Zwergrohrkolben, der die natürliche Dynamik des Lechs liebt und die Uferbereiche besiedelt.
Und wir? Wir merken nach fünf Tagen, wie gut es tut, mal „gegen den Strom zu schwimmen", nicht nur, weil die „Lebensspur Lech" viel Neues zu bieten hat, sondern vor allem, weil sie uns hilft, zu uns selbst zu finden.