Wenn man nach Papua Neuguinea reist, kommt man nicht nur in eines der schönsten Länder der Welt mit über 4.000 Meter hohen Bergen, ursprünglichen Flusslandschaften und riesigen Dschungelgebieten. Urlaubsgäste tauchen auch in eine andere Zeit ein, unternehmen eine Reise zurück in eine alte Kultur.
Terima begrüßt mich im Lendenschurz. Rund um den Vollbart ist sein Gesicht schwarz bemalt. Die Finger umklammern eine Steinaxt. Auf dem Kopf trägt er den traditionellen Federschmuck seines Stammes. Der Halsschmuck, er reicht Terima fast bis zum Schritt, besteht aus mehr als 100 kleinen Knochenstäbchen. Jedes davon symbolisiert zehn geschlachtete Schweine. Bei den Papuas sind Schweine Nahrung, Tauschobjekt und Statussymbol in einem.
Mehr Schwein mehr Macht – so einfach ist die Gleichung. Terima ist ein sehr mächtiger Mann. Er ist der Stammesälteste der Paigona, einem Stamm in der Nähe von Mount Hagen, einer Stadt im Hochland. Und er steht einem Riesen-Clan vor: Terima hat mit fünf Frauen 20 Kinder gezeugt. Fast 90 Jahre sei er alt, sagt er – „zumindest ungefähr". Sein genaues Alter kennt er nicht. Als Terima geboren wurde, hat niemand das Geburtsdatum dokumentiert. Aber er weiß, dass er ein kleiner Junge war, als die Weißen kamen. Erst in den 30er-Jahren bekamen die damals noch in einer steinzeitlichen Kultur lebenden Papuas des Hochlands die ersten Menschen zu Gesicht, die von jenseits der Berge kamen. Australische Goldsucher hatten die hohe Bergkette überwunden, die das Landesinnere von der Küste abschirmte. Zu ihrer Überraschung fanden sie aber kein menschenleeres Gebiet, sondern eine fruchtbare Hochebene. Und in der lebten damals fast eine Million Menschen. „Hier kamen die Weißen damals den Bergabhang hinab", sagt Terima und deutet vage Richtung Süden. „Wir haben uns alle gefürchtet." Kein Wunder: In der Mythologie seines Stammes haben die Geister der Verstorbenen eine helle Haut. Man glaubte, die Fremden seien Teufel.
Goldsucher machten ihnen Angst
Doch recht schnell, sagt Terima lachend, habe man herausbekommen, dass auch die Fremden nur Menschen waren. „Wir Kinder haben sie heimlich auf der Toilette beobachtet. Ihr Stuhlgang sah genauso aus wie unserer."
Trotzdem trauten sich die Papuas nicht, gegen die Weißen zu kämpfen. Sie fürchteten sich vor deren Gewehren. Wo immer die australischen Goldsucher hinkamen, erschossen sie vor den Augen der Stammeskrieger erst einmal ein Schwein.
Dabei sind die Papuas tapfere Krieger. Ihr Ruf als Menschenfresser kommt nicht von ungefähr. Diese Tradition fand zwar in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihr Ende. Auch Terima hat als Kind noch Menschenfleisch gegessen, sagt er. Die Spitze seines Speers besteht aus Menschenknochen. Allerdings musste dafür kein Feind sterben: „Es ist mein Bruder. Er starb vor vielen Jahren im Kampf", sagt Terima und berührt die Spitze fast zärtlich mit dem Finger. Aus einem der Oberschenkelknochen hat sich Terima die Spitze geschnitzt. „So ist sein Mut auf mich übergegangen."
Stammeskriege sind auch heute noch das gängige Mittel der Konfliktlösung. „Wir streiten über Land, Schweine und Frauen – in genau dieser Reihenfolge", sagt Terima. Für ihn ist es völlig normal, in den Krieg zu ziehen, wenn der Nachbarstamm einen Grenzstein versetzt oder ein Fremder ein Schwein gestohlen hat – oder wenn eine Frau mit einem Mann des Nachbarstammes Ehebruch begangen hat.
Blutrache, Hexenverbrennungen, Geisterbeschwörungen, all das gibt es noch in Papua Neuguinea. Und zwar nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Papua Neuguinea ist eine gewalttätige Gesellschaft. Immer wieder werden in Reiseführern und Zeitungsartikeln Statistiken zitiert, die das anscheinend belegen. Doch die Gewalt in Papua ist nicht mit der in den meisten anderen Reiseländern der Dritten Welt vergleichbar. Dort geht die Gewalt von Kriminellen aus, von Menschen, die Touristen als leichte und reiche Opfer sehen. Es ist eine willkürliche Gewalt, die jeden treffen kann.
In Papua ist das anders. In der noch sehr traditionell geprägten Gesellschaft wird die Gewalt nicht von Outlaws ausgeübt, sondern von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Dabei gehorcht in Papua die Gewalt festen Regeln – Regeln, die für uns zwar archaisch wirken, die aber dafür sorgen, dass sich Besucher von außerhalb kaum bedroht fühlen müssen.
Wer sich mit einem Guide auf den Weg macht, kommt näher an die Menschen heran, erlebt mehr vom Land. Mein Guide heißt Ariko, ist 25 Jahre alt und spricht recht ordentlich Englisch. In einem Land, in dem die meisten Menschen weder lesen noch schreiben können, ist das etwas Besonderes.
Einheimische sind als Führer wichtig
Ariko übersetzt aber nicht nur für mich. Er bringt mich auch dorthin, wo es wirklich spannend ist. Papua Neuguinea ist touristisch kaum erschlossen, und deswegen ist es relativ kompliziert und auch teuer, auf eigene Faust durchs Land zu reisen. Die Sehenswürdigkeiten sind nirgends beschrieben und schon gar nicht ausgeschildert. Ohne Hilfe würde man sie kaum finden. Ariko hilft mir aber auch dabei, die kulturellen Barrieren zu überwinden. Ihm verdanke ich es, dass ich keine Tabus verletze. Ein Dorf zu besuchen, ohne sich vorher anzumelden, wäre respektlos. Das Gebiet eines Stammes betritt man nur, wenn man sich vorher zu erkennen gegeben hat. Das gilt für Einheimische wie Fremde gleichermaßen. Bei Wanderungen begleiten uns deswegen auch immer bezahlte „Träger" des Stammes, auf dessen Gebiet wir uns bewegen – wenngleich sie nichts anders tragen als die eigene Wasserflasche.
Abgesehen davon, dass die Einheimischen auf diese Weise zumindest ein bisschen vom Tourismus profitieren, wird so auch der Tradition genüge getan: Niemand darf das Gebiet eines Stammes ohne vorherige Zustimmung durchqueren.
Die Fahrt von Mount Hagen nach Goroka dauert mit dem Wagen etwa drei Stunden. Die Straße zwischen den Städten – und das ist selten in Papua Neuguinea – ist hervorragend ausgebaut. Sie wurde allein für die Lastwagen von Exxon gebaut. Hier im Dschungel liegt eines der größten Erdgasvorkommen der Welt und das wird von dem amerikanischen Energiekonzern ausgebeutet.
Von Reichtum, der durch das Erdgas kommen könnte, ist in Goroka nichts zu spüren. Ruhig und friedlich liegt die Kleinstadt mit ihren 20.000 Einwohnern inmitten des Hochlands, auf 1.600 Metern, umgeben von fruchtbarem Land und gesegnet mit einem geradezu perfekten Klima. Tagsüber steigt die Temperatur regelmäßig bis an die 30-Grad-Grenze. Nachts aber sinkt sie wegen der Höhenlage auf angenehme zwölf oder 13 Grad. Auf mich wirkt Goroka wie ein verschlafenes Provinzstädtchen. Für die Papuas aber ist es eines der großen Zentren – und Mitte September der wichtigste Ort des Landes.
Am Tag nach meiner Ankunft bricht der Sturm los: Tausende Menschen – Männer und Frauen, Kinder und Alte – strömen in die Stadt, lagern im Park und kampieren am Stadtrand. Sie alle sind Teilnehmer oder Besucher des „Goroka Sing Sings". Bei diesem Tanz- und Kulturfestival kommen die Stämme aus ganz Papua zusammen. Drei Tage, von Freitag bis Sonntag, werden sie in den Straßen der Stadt und auf dem Goroka Show Ground feiern – auf einem riesigen Sportplatz, auf dem sonst das regionale Rugbyteam seine Spiele austrägt.
Das Handy am Lendenschurz
Gelb sind die Gesichter der Huli-Krieger bemalt, tiefschwarz die des Rapako-Stamms. Auf dem Kopf sitzt eine weit ausladende Kopfbedeckung aus Gras und Moos. Ihre Köper sind mit feuchter Erde beschmiert, um den Hals tragen sie gelbe Ketten – und den Halsschmuck aus Knochenstäbchen, den ich schon bei Terima kennengelernt habe. Laut singend und von Trommelschlägen unterstützt tanzen die Männer ihren rhythmischen Kriegstanz.
Ganz anders geschmückt und bemalt sind die Männer aus der Provinz Enga. Hier dominieren die Farben Rot und Gelb. Die dichten Vollbärte sind weiß gefärbt. Auf dem Kopf tragen sie eine Art roter Strickmütze, aufgepeppt mit unzähligen Vogelfedern. Die langen bunten Federn der Paradiesvögel spielen beim Schmuck vieler Stämme eine wichtige Rolle: Je länger und bunter, desto besser. Nur daran, dass ein Stammeskrieger in einer Tanzpause das Handy aus dem Lendenschurz zieht, erkenne ich, dass die Zivilisation auch hier schon ihre Spuren hinterlassen hat.
Das erste Sing Sing in Goroka organisierte die australische Provinzregierung im Jahr 1957. Australien verwaltete Papua Neuguinea von 1949 bis 1975 als Treuhandgebiet. Das Ziel des Festes: Die verfeindeten Stämme des Hochlands sollten friedlich miteinander feiern. So jedenfalls hatten sich die Australier das vorgestellt. Nicht wer die tapfersten Krieger stellte, sondern wer die besten Tänzer mit den schönsten Kostümen präsentierte, sollte entscheidend sein. Für die Sieger lobten die Australier stattliche Geldpreise aus.
Allerdings trat das genaue Gegenteil ein: In den Monaten nach der Veranstaltung bekämpften sich die Stämme besonders heftig. Erst nach einigen Jahren verstanden die Australier, was sie mit den Sing Sing ungewollt angerichtet hatten: Es war der Geldpreis für die Sieger, der Streit auslöste. Den Unterlegenen war das Urteil der Jury egal. Sie forderten – mitunter mit Waffengewalt – den ihnen vermeintlich zustehenden Anteil am Preis ein. Deswegen wird heute allen Teilnehmern des Sing Sings ein Antrittsgeld überreicht, einen Siegerpreis gibt es nicht mehr.