In Neunkirchen können Geschichts-Interessierte in die Ära von Stahlbaron Karl Ferdinand von Stumm-Halberg eintauchen. Hüttenarbeiter Alfred und Freiin Bertha von Stumm-Halberg machen’s möglich.
Ein Skandal! Da spaziert doch ein einfacher Hüttenarbeiter am helllichten Tag ungeniert mit der jungen Bertha, Tochter des Hüttenbarons Karl-Ferdinand von Stumm-Halberg, durch Neunkirchen. Und die lüpft auch noch an einer bestimmten Stelle ihren Rock, um ihre lange Unterhose zu präsentieren! Wenn das ihr Vater sehen würde. Doch zum Glück sind wir im 21. Jahrhundert, der große Stahlbaron ist längst Geschichte. Und genau um diese geht es bei dieser besonderen Kostümführung in der ehemaligen Hüttenstadt. Heike Lismann-Gräß hatte die Idee dazu und konnte ihre Tochter Paulina ebenfalls dafür begeistern.
Heike Lismann-Gräß dürfte vielen vom Neunkircher Musicalprojekt bekannt sein, wo sie schon in einigen solistischen Rollen, unter anderem als Lysistrate, auf der Bühne stand. Doch heute ist sie kaum zu erkennen. Mit Schnurrbart und Kappe, sich für seine einfache Arbeitskleidung entschuldigend, kommt Hüttenmann Alfred, alias Heike Lismann-Gräß, breitbeinig angestapft, baut sich vor uns auf und fängt auch gleich an, mit den Frauen zu flirten. Hinter ihm im feinen Kleid und Hütchen, erhabener Blick, schreitet vornehm Bertha, Freiin von Stumm-Halberg, alias Paulina. Die beiden sind ein ungewöhnliches Bündnis eingegangen, um uns etwas über die Zeit zu berichten, in der sie gelebt haben.
Es war die Ära von Karl-Ferdinand von Stumm-Halberg, der 1836 geboren wurde und nach dem Freitod seines Vaters schon als 22-Jähriger das Hüttenwerk in Neunkirchen übernommen und groß gemacht hatte. Bertha war das jüngste seiner fünf Kinder. Und die ist ziemlich stolz auf ihren Papa, wie sie gleich zu Anfang verlauten lässt. Zum Beispiel darauf, dass ihr Herr Vater ihr und ihren Schwestern eine eigene kleine Reithalle hat bauen lassen, nur damit die jungen Damen in Ruhe ihre Ponys reiten konnten. Diese ist heute als Stummsche Reithalle bekannt. Hier beginnt auch die Führung. Arbeiter Alfred rollt mit den Augen. „Die sind ja alle so fein, diese Madämmchen“, sagt er, und zwirbelt an seinem Schnurrbart, während Bertha betont, dass sie bitte mit „Freiin von Stumm-Halberg“ angesprochen werden möchte, die weibliche Form von Freiherr. Diesen Titel hatte ihr Vater vom deutschen Kaiser verliehen bekommen.
Heike Lismann-Gräß hatte die Idee zu der Kostüm-Führung
Wie fern die Arbeiter im 19. Jahrhundert von dem feinen Leben waren, davon berichtet dann Alfred. „Das war echt eine schlimme Zeit“, meint er. „Es hat nur gequalmt und geraucht, wir mussten so viel arbeiten, und ich hatte noch vier Kinder zu Hause, es hat immer nicht gereicht.“ Doch vom „Stumm-Karl“ ist Alfred dennoch begeistert. „Der war damals unser Held“, betont er. „Der hat sich um uns gekümmert. Der wollte, dass es den Arbeitern besser geht. Der hat im Reichstag in Berlin für unsere Rechte gekämpft!“ Und dann berichtet Alfred von den positiven Veränderungen, die der Hüttenbaron initiiert hatte, wie zum Beispiel die erste Sozialkasse Deutschlands in Neun-kirchen, und dass er ein Krankenhaus errichtet hatte, in dem alle Arbeiter und ihre Familien kostenlos behandelt worden waren. „Und sogar eine Hüttenschule gab es“, sagt Alfred nicht ohne Stolz.
„Aber“, so Alfred weiter „wir mussten viel schaffen und durften nicht machen, was wir wollten.“ Der Preis für das geordnete Arbeiterleben war ein gutes Stück persönliche Freiheit.
„Es galt ja, die Ordnung aufrechtzuerhalten“, meint da die hübsche Freiin Bertha und kommt ins Schwärmen, wie schön das Herrenhaus war, das damals unweit der Reithalle gestanden hatte, und berichtet von dem prachtvollen Garten. Und erinnert seufzend an das herrschaftliche Leben mit den vielen Bediensteten und der eigenen kleinen Kapelle, die heute noch zu sehen ist. Alfred stöhnt. „Ja, die Stahlbarone hat man sie auch genannt.“
„Der hat aber immer gewusst, was in seinem Werk passiert“, meint der Hüttenmann weiter. „Aber es hat hier gestunken“, beschwert sich Bertha mit einer genervten Handbewegung. „Und dieser Staub auf den Kleidern!“ Alfred zückt sofort eine kleine Bürste und säubert das Kleid seiner Herrin. „Deshalb sind wir nach Saarbrücken umgezogen, in ein Schloss auf dem Halberg“, erzählt Bertha weiter.
„Es galt, die Ordnung aufrechtzuerhalten“, meint Fräulein Bertha
Alles war sehr vornehm damals, sogar der Dienstboten lebten in eigenen schönen Gebäuden, wie zum Beispiel dem heutigen Kutscherhaus, in dem, wie der Name verrät, der Kutscher des Hüttenchefs mit seiner Familie lebte.
Bei dieser Gelegenheit erzählt Bertha die ungewöhnliche Geschichte des Kutschers. Der hieß Hermann Fuchs und war anfangs Kutscher eines Grubendirektors. Als dieser sich im Hüttencasino vergnügte, musste Hermann Fuchs die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen auf dem Kutschbock sitzen und warten. Zufällig kam Karl-Ferdinand von Stumm-Halberg vorbei und fragte den Kutscher, warum er die Wartezeit nicht im Wirtshaus verbringt. Hermann Fuchs antwortete, dass ein Kutscher immer bei seinen Pferden wartet, und wenn er drei Tage warten müsste. Karl Ferdinand war so beeindruckt von dem Berufsethos, dass er den Kutscher abwarb und ihn einstellte.
Daraufhin führt Bertha uns zu einem Denkmal, wo die Namen ihrer Familie aufgelistet sind. Und erzählt die tragische Geschichte ihres Großvaters, der sich umbrachte. Dann offenbart sie ein peinliches Familiengeheimnis, das sie aber nur denjenigen beichtet, die an der Führung teilnehmen, wie sie betont.
Alfred reicht‘s dann mal wieder mit dem hochherrschaftlichen Tamtam. Er führt uns in die Welt der Hüttenarbeiter, direkt zum Hochofen an die Gebläsehalle. „Das hier war mein Arbeitsplatz. Hier standen mal sechs von diesen Hochöfen.“ Dann erklärt er, wie die funktioniert haben, wie das Eisen geschmolzen wurde, welche Hitze hier herrschte. Dabei wird den Zuhörern schnell klar, was für ein Knochenjob das damals war. „Hitze, Staub, Gestank. Da haben die Männer gearbeitet“, sagt Alfred. Der schlimmste Platz war dort, wo die Schlacke abgezogen worden ist. „Der Strom war heiß wie Lava. Wer da reingeriet, ist verglüht.“
Dann geht’s hoch hinaus, über viele Treppen direkt zum obersten Plateau des Hochofens. Ein fantastischer Ausblick über die Stadt erwartet die Besucher, der Höhepunkt der Führung.
„Wir Arbeiter durften keine Gewerkschaft gründen“
Wieder unten angekommen, hat Alfred das nächste Highlight parat. Die alte Gebläsemaschine in der Halle. Das faszinierende Monstrum ist noch original erhalten. Fünf davon standen einst hier nebeneinander. „Eine hat 2.000 PS, die liefen alle gleichzeitig, ein ohrenbetäubender Lärm“, berichtet Alfred. „Das muss man sich mal vorstellen.“ Dann erklärt er uns, wie sie funktionierten, wie oft sie gewartet werden mussten. Und mit stolzgeschwellter Brust fügt er hinzu: „Das hier ist die einzige Gebläsemaschine ihrer Art, in dieser Bauform gibt es auf der ganzen Welt keine Maschine mehr in diesem Zustand. Ihr dürft auch gerne mal an dem Haken schwingen!“, sagt er und lacht ein raues Hüttenarbeiter-Lachen. Doch das traut sich dann aber doch keiner.
Weiter geht es durch die Stadt, vorbei an den ehemaligen Häuschen der Hüttenmeister, die heute auch bewohnt sind und unter Denkmalschutz stehen, bis hin zu einem Denkmal zu Ehren der verstorbenen Soldaten des Deutsch-Französischen Krieges. Hier erzählt Bertha auch etwas über ihre Mutter Ida, die Ehefrau und Cousine zweiten Grades des Hüttenbarons war, und sich sehr für soziale Belange und auch verwundete Soldaten eingesetzt hatte.
Und ein paar Ecken weiter stehen wir endlich vor dem Hüttenbaron selbst. Beziehungsweise seinem Denkmal, das groß und imposant auf dem Stummplatz aufgestellt wurde. Bertha platzt fast vor Stolz, was Alfred dazu animiert, auch mal was Kritisches zu sagen. „Wir Arbeiter durften keine Gewerkschaft gründen oder einer angehören. Und wer das trotzdem gemacht hat, der musste mit seiner ganzen Familie das Werk verlassen.“ Der schon angesprochene Preis der Freiheit.
Die junge Freiin möchte jetzt aber noch gern aus dem Leben der feinen Damen berichten. „Hier befand sich auch ein Kaufhaus, wo wir einkauften“, sagt sie und zeigt auf ein schönes altes Gebäude gegenüber dem Denkmal. „Zum Beispiel bekamen wir hier die Unaussprechliche. Wissen Sie was das ist?“ Und dann kommt es zu der schon oben angekündigten Präsentation der fast knielangen Unterhose. „Das bleibt aber unter uns, dass ich Ihnen das gezeigt habe!“ Wir versprechen es. Und müssen uns nun hier leider von den beiden verabschieden, denn die Führung ist zu Ende. Doch bevor alle auseinandergehen, wagt Alfred noch einen Handkuss bei seiner hübschen Herrin, die ihn lächelnd gewähren lässt. Der Papa sieht es ja nicht mehr.