Die Kanzlerin war in ihrer Amtszeit vor allem eines: Krisenmanagerin
Was bleibt von einer Kanzlerschaft? Die meisten deutschen Regierungschefs nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich vor allem mit einer Idee, einer Errungenschaft in die Geschichtsbücher katapultiert. Bei Konrad Adenauer war es die Westbindung, bei Willy Brandt die Ostpolitik, bei Helmut Kohl die Wiedervereinigung, bei Gerhard Schröder waren es die Sozialreformen. Und bei Angela Merkel?
Das endgültige Urteil werden die Historiker fällen. Doch aus heutiger Sicht wird Merkels 16-jährige Amtszeit weniger einen epochalen Stempel tragen als eine stilistische Charakterisierung. Die Kanzlerin hatte keine Vision wie etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der mit Verve für eine viel stärkere Integration der Eurozone warb. Sie tastete sich vielmehr an politische Lösungen heran. Und sie profilierte sich als Krisenmanagerin in einer aus den Fugen geratenen Welt. Ihr Markenzeichen: moderieren (Kritiker sagen: lavieren), vermitteln, Gegnerschaften vermeiden.
Dabei startete Merkel durchaus mit einer scharfkantigen Agenda. Den Konfrontationskurs von US-Präsident George W. Bush gegen den Irak unterstützte sie vorbehaltlos. In einem Meinungsbeitrag in der „Washington Post" schrieb die CDU-Vorsitzende im Februar 2003: „Nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika muss Europa mehr Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Druckes auf den irakischen Diktator Saddam Hussein übernehmen." Auf dem Leipziger CDU-Parteitag im Dezember 2003 hatte Merkel umfassende wirtschaftsliberale Reformen mit Kopfpauschalen in der Gesundheitsversicherung, einer Lockerung des Kündigungsschutzes sowie einfache niedrige Steuersätze durchgesetzt.
Es war, wenn man so will, Merkels politische Sturm-und-Drang-Zeit. Diese Klartext-Linie kostete die Union bei der Bundestagswahl 2005 fast den Sieg. Die Lehre, die die Neu-Kanzlerin daraus zog: Vorsicht, Maß und Mitte wurden zu ihren Leitplanken.
Viel Zeit hatte Merkel nicht, um im Amt zur Ruhe zu kommen. Die Finanzkrise, die 2007 infolge der leichtsinnigen Kreditvergabe von US-Banken ausgelöst worden war, riss die Geldhäuser weltweit an den Rand des Abgrunds. Durch die Sicherung der Spareinlagen im Oktober 2008 konnte die Kanzlerin – zusammen mit Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) – verhindern, dass sich Panikstimmung im Land breitmachte.
Ein weiterer Stresstest für Merkel war die Eurokrise ab 2010. Der Dreiklang aus Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und Wirtschaftskrise drohte die EU zu sprengen. Vor allem am immensen Defizit Griechenlands schieden sich die Geister. Am Ende bekam Athen drei Rettungspakete in Höhe von 280 Milliarden Euro. Die Kanzlerin lehnte zu Beginn die Forderungen Frankreichs, Spaniens und Italiens ab, üppige Hilfszahlungen zu leisten. Doch schließlich lenkte sie ein, um Griechenlands Staatsbankrott abzuwenden – allerdings um den Preis strikter Reformauflagen.
Das zähe Ringen um den Kompromiss definierte Merkels Kanzlerschaft. An drei Stellen wich sie jedoch von ihrem Kurs des feinen Austarierens ab. Nach der Reaktor-Katastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 drückte Merkel den beschleunigten Atomausstieg in Deutschland durch. Ihre Willkommenspolitik in der Flüchtlingskrise ab September 2015 beschloss sie ohne Abstimmung in Europa. Ein Schritt, der innen- wie außenpolitisch extrem polarisierte. Um zu verhindern, dass die Corona-Pandemie der Wirtschaft den Lebensnerv abschneidet, rang sich die Kanzlerin zur Auflage eines 750 Milliarden schweren EU-Wiederaufbaufonds durch. Die auf Spardisziplin pochende „schwäbische Hausfrau" sprang dabei über ihren Schatten.
Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin wird mehr Konturen zeigen müssen – allein schon wegen der unruhigen Weltlage. Die USA dürften sich künftig noch mehr auf sich selbst konzentrieren. Dies erhöht den Druck auf die EU, mehr geopolitische Muskelkraft aufzubauen. Die transatlantische Partnerschaft ist angesichts des wachsenden Machtanspruchs autokratischer Regime nicht überflüssig, muss aber neu definiert werden. Klare Sprache bei Menschenrechtsverletzungen, wirtschaftliche Stärke, gleichzeitig Kooperation bei gemeinsamen Herausforderungen wie dem Klimawandel: Das sind Leit-Koordinaten für Deutschland und Europa in der Nach-Merkel-Zeit.