Die schwedische Ostseeinsel Öland ist durch dreierlei geprägt: Windmühlen, weite Strände und die weltweit größte Alvar-Landschaft, eine Art Kalk-Heide. Deren Kräuter verleihen der neu interpretierten Wiesenküche eine ganz besondere Note.
Wenn die Schatten langsam länger werden und die Winde den nahenden Herbst verkünden, kehrt wieder Ruhe ein auf Öland. Und Harmonie. Eine einvernehmliche, ja fast ansteckende Harmonie zwischen dem schmalen Eiland am Kalmarsund, seinen Bewohnern und den wenigen Besuchern, die gerade den baltischen Altweibersommer so schätzen. Bauern holen die Ernte ein, rollen Stroh zu großen Ballen auf goldgelb leuchtenden Feldern. So wie es auch ihre Väter und Väters Väter schon getan haben. Ein idyllisches Bild im warmen Abendlicht. Nur die modernen Volvo-Traktoren scheinen da nicht ganz hineinzupassen.
Die Bataillone sonnenhungriger Schweden sind längst wieder zurückgekehrt in ihre Festlandswelt. So kollektiv sie zur Sonnenwende über die Ölandbrücke angerollt sind und die Sandstrände im Norden belagerten, so kollektiv haben sie sich Mitte August dann auch wieder zurückgezogen. Das Mallorca Schwedens, spötteln manche Zungen. Vielleicht, für knapp zwei Monate im Jahr.
Fast menschenleer wirkt die flache Kalkscholle dann mit ihren mystischen Runensteinen und Grabfeldern aus der Bronze- und Eisenzeit. Noch viel früher, vor rund 10.000 Jahren, besiedelten die ersten Menschen Öland. Zeugnis der vergangenen drei Jahrhunderte legen hingegen 400 hölzerne Windmühlen ab, die über die gesamte karge Insel verstreut sind und winterlichen Stürmen und Frost trotzen müssen. 2.000 sollen es einst gewesen sein. Eine stattliche Zahl, bedenkt man, das Öland gerade mal 137 Kilometer lang und maximal 16 breit ist. Auf knapp 20 Einwohner kam eine Mühle.
Egal wohin man blickt nur Horizont
Die Topografie der Insel lässt sich nicht wirklich als spektakulär oder gar dramatisch bezeichnen. Nach Osten, Westen, Süden und Norden hin nur Horizont. Und Sonne und Wind. Wären da nicht diese typischen, rotbraun oder gelb gepinselten Holzhäuser mit ihren weißen Fenster- und Türrahmen, würde man vermutlich nicht glauben, in Schweden zu sein.
„Wir hatten kaum den Strand von Öland betreten, so merkten wir schon, dass dieses Land ganz anders beschaffen war als die übrigen schwedischen Provinzen", notierte Carl von Linné schon 1741. Der Botaniker sollte auf Befehl der Hochlöblichen Reichsstände des Königreichs Schweden die Flora erforschen und systematisieren. Linné erkannte schnell, dass die Einzigartigkeit des isolierten Biotops eher unauffällig daherkam. Und zwar in Form der Stora Alvaret, die gut 250 Jahre später als prägender Teil der „Agrarlandschaft Südliches Öland" als Unesco-Weltkulturerbe gelistet wurde. Als Alvar bezeichnet man eine recht seltene Landform, die sich durch eine dünne Vegetationsschicht auf einem von der Eiszeit flach geschliffenen Kalksteinplateau definiert. Die Stora Alvaret, zu Deutsch Großes Alvar, ist mit gerade mal 40 Kilometern Länge und maximal zehn Kilometern das mit Abstand größte Alvar weltweit. Eine recht eigenartige Landschaft mit vereinzelten Sträuchern und kleinen Bäumen, die man auf den ersten Blick wohl eher in der afrikanischen Serengeti verorten würde denn auf einer Ostseeinsel. Zumindest im Spätsommer und dort, wo das Eis keine Findlinge vergessen hat.
Die Stora Alvaret erkundet man idealerweise zu Fuß oder mit dem Rad. Man kann ihr lauschen, sie riechen, tasten, mit dem Auge erfassen. Möchte man diese bemerkenswerte Kalk-Heide jedoch mit all seinen fünf Sinnen genießen, kommt man an Christofer Johansson nicht vorbei. Er ist so etwas wie der Shootingstar der schwedischen Haute Cuisine und zaubert mit den hocharomatischen Kräutern der Alvaret kleine Wunderwerke zu moderaten Preisen auf den Teller.
Seine Ängamat & Kräuter ist so eines. „Ängamat heißt so viel wie Wiesenessen und ist ein altes schwedisches Gericht", erklärt der eloquente Chefkoch und Inhaber des „Hotel Borgholm", der eher an einen frisch gebackenen Elite-Uni-Absolventen erinnert als an einen wettergegerbten Inselkoch. „Unsere Wiesensuppe mit Trüffeln verfeinern wir mit wildem Thymian und Oregano, Myrrhenkerbel, Heiligenkraut, Eberraute, grünem Wacholder, Lorbeer und Salbei, die wir sanft in Milch köcheln." Das Ergebnis? Ein erstaunliches Ensemble überraschender Aromenvielfalt. Neu, unbekannt, geheimnisvoll. Und so unbeschreiblich köstlich auf der Zunge, dass man versucht ist, das feine Wiesensüppchen so lange wie nur möglich auf selbiger zu belassen.
Kein Zufall. Mit den Köchen unternimmt der Maître gelegentlich sogar Exkursionen in die Alvarlandschaft. So sollen seine Mitstreiter ein noch besseres Gefühl für die extravaganten Alvaret-Menüs bekommen. Wo, wie und wann wachsen die zart duftenden Kräuter, die beispielsweise die helle Soße an Steinbutt erst vollenden? Und wie findet man eigentlich öländische Trüffel? Mit Hund oder Schwein? Ja, es gibt sie wirklich auf Öland. Dort und auf der Nachbarinsel Gotland gedeihen die nördlichsten der Welt. Beide Eilande gehören zu den sonnenverwöhntesten Regionen Schwedens und die Ostsee verhindert im dunklen Winter allzu klirrend kalte Nächte.
Schwäbin entdeckte aromatische Kräuter
Der ehrgeizige Johansson ist sich der Erwartungshaltung seiner Gäste bewusst. Hat er doch gerade Restaurant und Hotel von einer lebenden Legende übernommen. Von Karin Fransson. Wer ihren Namen auf Öland in den Mund nimmt, wird ein bewunderndes „Ohhh" und „Ahhh" vernehmen. 1967 kam die damals blutjunge hippe Frau vom Bodensee in High Heels und Minirock zum Urlauben auf die Insel. Und verliebte sich gleich zweimal. In den Hotelier Owe Fransson und in Öland. Zehn Jahre später folgte sie schließlich ihrem Herzen. „Die Inselküche war damals alles andere als elegant", erinnert sich Fransson. „Die musste einfach nur satt machen. Es gab keinen Sellerie, keinen Kohlrabi, keinen Knoblauch, einfach nichts." Also pflanzte die gelernte Sekretärin ihre eigenen Kräuter an und ging auf die Pirsch. Was die bodenständige Schwäbin in der Alvaret entdeckte, übertraf selbst ihre kühnsten Erwartungen. Aromatische Kräuter bester Qualität. Die Alvaret-Cuisine war geboren. Fransson erkochte sich einen Namen, bekam gar ihre eigene Radio- und TV-Show und ist Autorin einiger Kochbücher, wurde mehrfach mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. So fand denn auch die schwedische Boheme den Weg ins architektonisch eher nichtssagende Hotel. Genau wie die königliche Familie. Ohne großes Brimborium zum normalen Restaurantbetrieb neben anderen Gästen. Von der royalen Sommerresidenz Schloss Solliden ist es eh nur ein Katzensprung in das kleine Küstenstädtchen Borgholm.
Wirklich große Schuhe, in die Christofer Johansson da 2019 geschlüpft ist. „Wir werden das kulinarische Erbe von Karin Fransson weiterführen", so der neue Chefkoch selbstbewusst. „Aber auf unsere ganz eigene Art und Weise. Und eine neue Inselküche mit dynamischen Aromawelten im Wechsel der Jahreszeiten kreieren." Das ist ihm bereits nach wenigen Monaten bravourös gelungen, befindet neben Stammgästen auch der aktuelle Guide Michelin, der seine neu definierte Wiesenküche empfiehlt.
Ein ganz anderes Konzept verfolgt hingegen Eva Petersson von „Ninnis Kroppkaksbod", einem kleinen Selbstbedienungsrestaurant im Norden der Insel. „Unser Gericht kommt gleich zur Sache, und das seit 1990. Hier braucht es keinen Salat oder irgendwelche Beilagen", lacht Petersson, die Königin der Klöße. „Ein Kartoffelkloß, gefüllt mit Schweinespeck und Zwiebeln. Dazu Sahne, Preiselbeeren und wer mag, auch Butter. Einfach essen und genießen." Diese Hausmannskost ist so beliebt, dass selbst herausgeputzte Hochzeitsgesellschaften einen Stopp einlegen und sich die Bäuche vollschlagen. Eine echte öländische Institution, nur donnerstags und samstags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. In den sechs Stunden gehen dann in der Hochsaison 2.000 Klöße über den Ladentisch. Jeder einzelne handgemacht und mit einer geheimen Insel-Gewürzmischung veredelt. Sämtliche Kartoffeln wachsen auf den familieneigenen, kalkhaltigen Bio-Äckern, Zwiebeln und Schweinefleisch liefern Inselbauern. Die Petersons produzieren Klöße nun schon in vierter Generation, haben das einfache Gericht aus dem 18. Jahrhundert längst den Bedürfnissen der Gegenwart angepasst. Sämtliche Rohstoffe sind gluten- und laktosefrei, die vegane Variante wird mit Pilzen und Zwiebeln gefüllt.
Sauerteigbrot backen Betreiber selbst
Und wo wird nun Ölands bestes Frühstück aufgetischt? Ziemlich sicher in einem kleinen Bed & Breakfast im Süden der Insel. Im Eco by StrandNära von Erica und Mikael Anerhaf. „Als wir damals Pläne schmiedeten, eine Öko-Pension zu eröffnen, hatten wir weder Geld noch Ahnung von der Branche", erinnert sich die 37-Jährige. „Mikael studierte noch, und ich arbeitete als kaufmännische Leiterin bei Ikea. Doch wir trauten uns zu träumen und wollten unseren Traum leben." Nach monatelangen zähen Verhandlungen bekamen die Jungunternehmer schließlich Geld von der Bank und legten los. Entstanden ist ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Haus mit Wohlfühlgarantie. Geführt nach einem ganzheitlichen Konzept, welches weit über EU-Öko-Standards hinausgeht und seit 2009 KRAV-zertifiziert ist. Das schwedische Qualitätslabel zeichnet Betriebe aus, die nicht einfach nur Bio-Lebensmittel verwenden. Gemüse und Fleisch müssen auch sozial verantwortlich hergestellt worden sein von zertifizierten Landwirtschaftsbetrieben, die Umweltziele, wie die Reinhaltung des Grundwassers und der Luft, aktiv umsetzen und beispielsweise auch ein wirklich artgerechtes Umfeld für ihre Nutztiere garantieren. Heute zählt das StrandNära zu den neun Restaurants in ganz Schweden, die sogar mit dem höchsten KRAV-Label ausgezeichnet wurden. Natürlich kaufen die Anerhafs bevorzugt von regionalen Bauernhöfen.
Das schmeckt man einfach auch. Die kleinen Tomaten verströmen einen würzigen Duft wie aus Kindertagen, die Physalen sind unglaublich groß, fruchtig und aromatisch, ganz anders als ihre mickrigen Verwandten aus dem Supermarkt. Und das noch warme, in aller Früh von Mikael gebackene Sauerteigbrot lässt einem einfach das Wasser im Mund zusammenlaufen. Vom hauchzarten Schinken oder dem würzigen Schafskäse ganz zu schweigen.
Spätestens hier ist sie wieder, die Stora Alvaret. Denn Ölands Bauern lassen ihr Vieh seit Jahrhunderten dort weiden. Sonst wäre die Kalk-Heide längst verbuscht. Nur durch das behutsame Zusammenspiel von Mensch und Natur ist diese einzigartige Kulturlandschaft entstanden, die heute ein Welterbe ist und die Küche Ölands so vorzüglich prägt.