2016 schien die Trainer-Laufbahn von Stefan Kuntz lange beendet. Doch in der Karriere des Saarländers lief selten etwas linear ab. So startete er beim DFB als U21-Trainer durch. Und ist nun, mit 58, zum A-Nationaltrainer der Türkei berufen worden.
Die Frage, was ihm in der Türkei am meisten fehlen wird, beantwortet Stefan Kuntz ohne Zögern. „Wer uns Saarländer kennt, weiß: Ich werde die Lyoner vermissen", sagt er mit einem Lachen. Und ergänzte: „Aber es gibt hier nichts, was es nicht gibt. Und bei den ersten Mahlzeiten habe ich schon viel erkannt, was ich hier sehr geschätzt habe."
Kuntz, der für die nächsten drei Jahre Nationaltrainer der Türkei sein soll, hat nämlich schon mal in Istanbul gespielt. 1995/96 für eine Saison unter Trainer Christoph Daum bei Besiktas. Und er ist auch nicht etwa gegangen, weil es ihm nicht gefallen habe. Ganz im Gegenteil. „Von den Möglichkeiten und von der Stadt her war es eine überragende Zeit", sagt Kuntz: „Ich kann heute noch fast alle meine Mitspieler aufzählen. Und viele haben sich auch jetzt wieder gemeldet." Seine Tochter sei damals in der Türkei in die zweite Klasse gegangen, sein Sohn in den Kindergarten, erinnert sich der gebürtige Neunkircher. „Es war unheimlich schön, weil wir uns auch als Familie darauf eingelassen haben." Gegangen sei er aus anderen Gründen. „Dadurch, dass Christoph Daum entlassen wurde und damals nur drei Ausländer spielen durften, hatte ich ein bisschen Angst, dass ich beim Nachfolger nicht spielen würde." Also ging Kuntz damals nach der EM, bei der er mit Deutschland den Titel holte und das Team im Halbfinale durch sein Tor gegen England ins Elfmeterschießen rettete, nach Bielefeld.
Auch seine Familie verbindet mit dem Jahr in Istanbul offenbar nur gute Erinnerungen. „Als ich zum ersten Mal von dem Angebot erzählte, sagten sie zu mir: ‚Können wir auch in die Türkei kommen?‘ Ich glaube, ich könnte kein größeres Kompliment machen", erzählt Kuntz. Für ihn sei das Engagement als Nationalcoach deshalb „ein bisschen – oder nicht nur ein bisschen – wie nach Hause kommen. Ich bin an einem anderen Flughafen angekommen. Aber als ich sofort im Stau stand, wusste ich sofort: Ich bin in Istanbul." Künftig will Kuntz in der Metropole wohnen, er will schnell Türkisch lernen, und er macht ein klares Versprechen, das am Tag nach seiner Vorstellung in Deutschland wie in der Türkei die Schlagzeilen bestimmte: „Ich will der deutscheste Türke werden. Oder der türkischste Deutsche."
Kuntz will schnell Türkisch lernen
Mit all diesen Worten, die Kuntz authentisch rüberbringt, bewirkt er natürlich auch eines: Die Türken schließen ihn sofort ins Herz. Sie merken, dass sich jemand mit ihnen, dem Land und der Aufgabe identifiziert. Und genau dieses Gefühl hat Kuntz auch in den fünf Jahren als U21-Nationaltrainer sowohl innerhalb des Deutschen Fußball-Bundes als auch unter den Spielern geschafft. Er hatte immer Episoden und Geschichten parat, erzählte von seiner Oma, war immer zutiefst menschlich, sagte Worte, die sich wie eine warme Decke um einen legen und schaffte Lagerfeuer-Mentalität, ohne die Intensität dabei schleifen zu lassen.
So wurde er zum Rekordtrainer der U21, sogar erfolgreicher als Horst Hrubesch. Bei drei U21-Europameisterschaften kam er dreimal ins Endspiel, zweimal holte er den Titel. Und das nicht mit Mannschaften aus ausschließlich Hochbegabten. Sondern vor allem über echtes Teambuilding. „Er kann seine Spieler und Teams auf eine ganz besondere Art begeistern. Alle Spieler, die unter ihm gespielt haben, schwärmen von ihm und der Atmosphäre, die er in seinen Mannschaften geschaffen hat. Dem türkischen Verband kann man zu dieser Verpflichtung nur gratulieren", sagt Oliver Bierhoff, Direktor Nationalmannschaften und Akademie beim DFB. Für ihn stehe auch „außer Frage, dass Stefan die Fähigkeit besitzt, Trainer einer A-Nationalmannschaft zu sein. Und das kann er nun in der Türkei auf einer großen Bühne beweisen."
Gern hätte Kuntz dies wohl auch beim DFB bewiesen. Und er war sicher auch einer der aussichtsreichsten Kandidaten auf die Nachfolge von Dauer-Bundestrainer Jogi Löw. Bis Hansi Flick ins Spiel kam, Löws einstiger Assistent und zuletzt Titelsammler mit dem FC Bayern. Flick war sicher von Anfang an der Top-Kandidat auf Löws Nachfolge, und somit hatte sich das Thema Kuntz bald erledigt. Ob der 58-Jährige nun deshalb vom DFB weggeht, weil dieser – wie die „Bild" berichtete – nicht mal das zugesagte Gespräch mit ihm führte, bleibt offen. Vielleicht zermürbte ihn auch ein wenig die Erfahrung vor Olympia, als viele Vereine die Unterstützung verweigerten, Kuntz mit 100 Kandidaten telefonierte, aber am Ende nicht einmal den Kader vollbekam und in der Vorrunde ausschied. Flick, der als DFB-Sportdirektor Kuntz einst zum DFB holte, hätte „gern länger mit ihm zusammengearbeitet", ihn gern als wichtigen Zuarbeiter weiter bei der U21 gesehen. Aber er sagt auch: „Ich kann nachvollziehen, dass ihn die Chance in der Türkei gereizt hat."
Kuntz wäscht keine schmutzige Wäsche, kartet nicht nach. Über den DFB sagt er nur Gutes. „Auf die Leute, mit denen ich zu tun hatte, lasse ich nichts kommen", sagt er: „Es ist immer gut, wenn man geht und die Tür ist offen, wenn man wiederkommen möchte. Und das ist der Fall. Wer meine Vita kennt, weiß, dass es ab und zu neue Herausforderungen geben muss. Und eine A-Nationalmannschaft zu trainieren in einem Land, in dem ich eine positive Vergangenheit habe, das hat mich total geflasht."
Seine Abwanderungsgedanken hatte er aber auch öffentlich durchaus durchblicken lassen. Weswegen laut Kuntz die meisten im DFB „mit diesem Szenario irgendwo gerechnet haben. Wir haben ja die ganze Zeit mit offenen Karten gespielt. Deshalb war niemand negativ überrascht." Schon im Sommer habe es einen Austausch mit einem Verband gegeben. Und auch Interesse aus der Bundesliga. „Aber ich hätte die Olympia-Mannschaft nicht im Stich gelassen, weil ich die gesamte Vorbereitung gemacht habe."
Immer mit offenen Karten gespielt
Für einen Einstieg bei einem Verein war es damit erst einmal zu spät, weil er große Teile der Vorbereitung verpasst hätte. Und so wird Kuntz mit 58 zum ersten Mal Nationaltrainer. „Ich bin auch mit über 30 erst Nationalspieler geworden", sagt er dazu lachend: „Und wenn ich mir die Pubertät anschaue, war ich auch Spätstarter. Das begleitet mich also durch mein ganzes Leben." Er habe in seiner Karriere immer dazugelernt, sagt er erstaunlich und herzerfrischend offen: „Ich musste auch mal extrem auf die Nase fallen. Vielleicht habe ich auch jetzt erst die Qualität und Reife für diesen Job. Vor fünf Jahren hatte ich diese Qualität, glaube ich, noch nicht."
Es waren in der Tat zwei kuriose Karrieren, die Stefan Kuntz hingelegt hat. Als Spieler kickte er mit 19 noch in der Oberliga Südwest, wurde dann durch Zufall entdeckt, weil ein Späher aus Bochum einen Abwehrspieler sichten wollte, gegen den Kuntz letztlich drei Tore schoss. Obwohl er nie für den FC Bayern München spielte, sondern für Bochum, Uerdingen und Kaiserslautern, wurde er Meister, Pokalsieger und zweimal Bundesliga-Torschützenkönig. Sein geplantes Nationalmannschafts-Debüt mit knapp 29 verpasste er, weil er sich beim Aussteigen aus dem Bus einen Bänderriss zuzog. Mit 31 debütierte er doch, wurde Europameister und verlor keines seiner 25 Länderspiele – womit er bis heute Rekordhalter ist.
Als Trainer begann es auch verheißungsvoll. Seinen Heimatverein Borussia Neunkirchen führte Kuntz zur Meisterschaft in der Oberliga, den Karlsruher SC schließlich in die Zweite Liga. Bei Waldhof Mannheim übernahm er spät in der Saison eine Mission impossible und stieg ab. Und als er bei Zweitligist LR Ahlen 2003 nach neun Spielen gehen musste, erklärte er seine Karriere als Vereins-Trainer für beendet, wurde Manager in Koblenz, Bochum und Kaiserslautern.
Und dann, 13 Jahre nach dem letzten Trainer-Job, kam plötzlich der DFB. „Das war ein großer Vertrauensbeweis und eine ungewöhnliche Idee, weil ich lange aus dem Job raus war", sagt Kuntz, der dem DFB deshalb heute noch „dankbar ist für diese Chance". Und der sich deshalb auch nicht davon irritieren lässt, wenn jemand ihm den Job in der Türkei nicht zutraut. „Als ich U21-Trainer geworden bin, war die Zahl derer, die es mir nicht zutraut, sicher noch ein bisschen größer", sagt er mit einem Lächeln.
Stefan Kuntz ruht einfach in sich. Doch er weiß auch, wie schwer die Aufgabe im emotionalen Umfeld der Türkei wird. Mit der Qualifikation für die WM 2022 in Katar wird es eng, „ein Wunder" wäre sie gar laut Kuntz. Danach soll er das Team umbauen und zur EM 2024 führen. Die findet übrigens in Deutschland statt. Und das wäre dann wirklich eine besondere Heimkehr.