Im Spätherbst erwarten den Besucher auf Hiddensee klare Sicht, Farbenspiele in unendlicher Weite und eine atemberaubend schöne Landschaft.
Alle Wege nach Hiddensee führen über das Wasser. Es ist ratsam, sich für die längste, circa zweieinhalbstündige Überfahrt zu entscheiden und das Fährschiff für den späten Nachmittag zu buchen. Das dient der Gemütsruhe. Auf dieser Route geht es von Stralsund aus bis zum kleinen Hafen Kloster im Norden der Insel. Schon nach einer kurzen Weile an Bord verblassen die Alltagssorgen, alles entschleunigt sich. Immer weiter rücken die Kirchtürme der Hansestadt in weite Ferne, während die langsam untergehende Sonne am tiefblauen Himmel das Boddengewässer mit einem Teppich aus Gold überzieht. Wie still es plötzlich ist, wie gemächlich das Schiff die glitzernden Wellen teilt. Wer kann, der reise also im Spätherbst auf die Insel: klare Sicht, wohin das Auge schweift, Farbenspiel in unendlicher Weite. Selbst der kühle Wind auf dem Oberdeck scheint die Seele zu streicheln. Die Fahrt geht nicht über das offene Meer, sondern durch den Schaproder Bodden. Nach Osten begrenzt die Insel Rügen das flache Gewässer, während sich im Westen die knapp 17 Kilometer lange, zumeist sehr flache Insel Hiddensee erstreckt. Schon bald rückt ihr Wahrzeichen, der nördlich auf dem Schluckswiegberg gebaute Leuchtturm, ins Blickfeld. Hier, auf den bis gut 70 Meter hohen Hügeln steht er, sein weißes Licht reicht 45 Kilometer weit.
Die späte Ankunft in einbrechender Dunkelheit hat einen weiteren Vorteil. Die Tagestouristen haben die Insel bereits am Nachmittag verlassen, sie kommen erst am nächsten Vormittag. Ohnehin sind es zu dieser Jahreszeit deutlich weniger als im Sommer. So wirken der Hafen und der kleine Ort Kloster fast wie verlassen. Einzig die zurückhaltend beleuchtete Fassade des Hotels „Hitthim" weist den Weg, und man muss sich sputen, um noch eine warme Mahlzeit zu bekommen. Aber die Einkehr lohnt, nicht nur wegen des reichhaltigen Angebots an regionalen Speisen, vor allem frischer Fisch. In einem Gastraum sind die Wände mit einer Fotogalerie prominenter Hiddensee-Besucher zu bestaunen, und kaum jemand fehlt, der im letzten Jahrhundert im Kunst- und Kulturbetrieb Rang und Namen hatte. Das muss Gründe haben.
Künstlerkolonie und Bauerndorf
Der Sage nach kämpfte einst der Norwegerkönig Hedin auf diesem Eiland um die Gunst einer Frau, vielleicht auch nur um Gold, aber seinem Einsatz verdankt die Insel ihren späteren Namen: Hiddensee. Die Ureinwohner waren Slawen, bald unterworfen von den Dänen und christianisiert durch Zisterziensermönche, die hier 1296 ihr Kloster gründeten. Im Zuge der Reformation wurde es aufgelöst und die Insel von 1648 bis 1780 von den Schweden verwaltet. Vom Kloster ist nichts mehr zu sehen. 1815 kommt die Insel dann zu Preußen und schon bald eröffnen sich für die einheimischen Fischer und Bauern neue Perspektiven. Statt als Zubrot auf Gestrandete zu warten, deren zerstörte Schiffe immer mal wieder gern ausgeplündert wurden, erschloss sich ein anderer, zunehmend lukrativer Nebenverdienst. Hartnäckig wehrte sich der kleine Hafenort Vitte gegen die Wiederaufforstung des Inselnordens. Die Begründung: durch Bäume und dichten Forst würde der Zugang der Touristen zum Strand erschwert.
Badefreuden an dem kilometerlangen weißen Sandstrand waren es hauptsächlich, die seit 1870 die ersten Fremden nach Hiddensee lockten. Sie segelten aus Stralsund und Schaprode über den Bodden, bis die ersten regelmäßigen Dampferverbindungen eingerichtet wurden. In Vitte gründen schlaue Fischer 1900 den „Badeinteressenten-Verein", einige Jahre später entstehen die ersten Hotels, Einheimische bieten bescheidene Unterkünfte an. Warum kommen nun aber auch Landschaftsmaler, Schriftsteller, Schauspieler, Aussteiger und Berühmtheiten wie Gerhart Hauptmann, Walter Felsenstein oder Gret Palucca auf die Insel, die auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche von Kloster ihre letzte Ruhe fanden? Irgendwann und irgendwo hat auf Hiddensee immer ein Prominenter gewohnt, und sie alle wussten: Es ist die Stille, das Licht, die Landschaft, die im Inselsüden Heide, Wiesen und stille Boddengewässer harmonisch zusammenfügt, im Norden rund um den waldigen Dornbusch Meer und Steilufer miteinander ringen lässt. Wer heute durch Kloster vom Hafen bis zum Gerhart-Hauptmann-Haus über die ungepflasterte Hauptstraße flaniert, spürt noch immer den unaufdringlichen Charme dieses Ortes, der alles sein kann: Seebad, Künstlerkolonie, Bauerndorf und Feriensiedlung. Wie klug, dass auf Hiddensee kein Autoverkehr zugelassen ist, wie wohltuend, dass man nicht von Leuchtreklamen, Fast-Food-Buden und beschallten Ramschläden angesprungen wird. Wer will, lässt sich von der Pferdekutsche von Kloster nach Vitte fahren. Ansonsten nimmt man das Rad, das preiswert überall ausgeliehen werden kann.
Fantastischer Blick vom Leuchtturm aus
Wer sanften und nachhaltigen Tourismus ernst nimmt, belässt alles, wie es ist, die Grenze der Belastbarkeit ist längst erreicht. Wie blödsinnig erscheinen da die Pläne, den Hafen von Vitte aufzurüsten! Noch mehr Liegeplätze für Segler, eine Mehrzweckhalle, eine Konzertmuschel, eine beleuchtete Steinmole? Hiddensee mag sich mit dem Grab von Gerhart Hauptmann schmücken, aber hat man schon vergessen, was der Dichterfürst und Inselkönig schon 1899 fürchtete? „Hiddensee ist eins der lieblichsten Eilande, nur stille, nur stille, daß es nicht etwa ein Weltbad werde."
Gewiss sehenswert und so ein Ort der Stille ist die Dünenheide, die sich zwischen Vitte und Neuendorf erstreckt. Sanft gewellt wechseln sich Sandstrandwälle, Bäume und Zwergsträucher ab, Heidetümpel und Moore dazwischen. Abgeschiedenheit in seichten Kuhlen, Genuss und neue Lebensfreude. Ausgewiesen als Naturschutzgebiet beeindruckt der Pflanzenreichtum. Füchse, Rehe und Kreuzottern kreuzen manchmal den Weg. Dennoch ist es der atemberaubend schöne Norden Hiddensees, der die Insel zum Sehnsuchtsort fern des Massentourismus macht.
Zunächst zum Leuchtturm, auf den höchsten Punkt, schon der vielversprechenden Aussicht wegen! Von Kloster aus führen zwei schöne Wege dort hinauf. Wer Wind und Wellen möglichst hautnah spüren möchte, der wendet sich vom Strand nach Norden, die Hucke entlang, einem mächtigen Schutzwall aus klobigen Steinquadern, der Ufer und Böschung vor dem gierigen Meer schützen soll. Es ist nicht ratsam, oben auf den Steinen entlangzubalancieren, zu glitschig die Oberfläche, zu tief die Spalten dazwischen. Schon bald geht es über den steinigen Strand, wo mancher sich bückt, zwischen Tang, Muscheln und Treibgut stochert und wühlt, Bernstein suchend, das Gold der Ostsee. Nach einer knappen Stunde führt eine Treppe das Steilufer hinauf, der Leuchtturm nun in Sichtweite. Der andere Weg ist lieblicher, führt stetig ansteigend durch den dichten Wald zum Klausner empor, vorbei an versteckten Villen zum Rand des Hochufers. Sanddorn und Schlehen wachsen hier, und es lohnt am Klausner die Rast. Vor gut 100 Jahren war der Flecken eine Bretterbude, Waldschenke und Naturtheater, eine abgelegene Einsiedelei hoch über dem Meer, die auch zu DDR-Zeiten die Aussteiger und Unangepassten anzog und den Ruf Hiddensees als „Insel der anderen" festigte.
Welch ein Blick nun vom Leuchtturm aus! Die Insel liegt ausgebreitet unter uns, bei guter Sicht sind die Türme Stralsunds zu erkennen, jenseits des Boddens Rügens Küste, gen Westen die schönsten Sonnenuntergänge über offener See. Hinab geht es den Dornbusch hinunter, eine fast unberührte, romantische Welt, wo sich hinter jedem Hügel eine neue Perspektive weitet, Sanddorn und Ginster auch hier, friedlich grasende Pferde, Stille, im Nebel wohl auch eine gespenstische Gegend.
Zum Schluss noch einmal das Meer, zum Enddorn, ganz an der Nordspitze Hiddensees, wo Bodden und Ostsee zusammentreffen und mit dem Hochufer die Kräfte messen. Stürme, Fluten und Brandungshöhlen untergraben die Steilküste, lassen jedes Jahr Teile des Ufers abbrechen, um die abgetragene Landmasse an der Ostseite der Insel wieder anzuspülen. Flache Landzungen wie Alt- und Neubessin erheben sich so über das Boddengewässer, ewiger Kreislauf der Natur. Was sie sich nimmt, gibt sie an anderer Stelle zurück.
Noch einmal geht der Blick auf das Hochland und den Leuchtturm, die Boddenlandschaft in stets wechselndem Licht. Wer Hiddensee zu seinem Sehnsuchtsort erkoren hat, kommt stets zurück. Voller Vorfreude schon auf der Fähre, mit Wehmut beim Abschied.