Vor 130 Jahren ließ Sir Arthur Conan Doyle Sherlock Holmes in den Tod stürzen, um ihn auf steten öffentlichen Druck Jahre später wieder auferstehen zu lassen. Eine Hommage an den berühmten britischen Autor.
Dass der hagere, scharfgesichtige Mann einen karierten Inverness Cape-Mantel trug – oberhalb stimmig komplettiert durch eine Deerstalker-Mütze mit Augen und Nackenschirm – war kennzeichnend. Doch nicht das Erstaunliche. Letzteres war vielmehr seine genialische Fähigkeit zur Deduktion; vermochte er es doch bei Inaugenscheinnahme von Menschen, aus deren belanglos anmutenden Eigentümlichkeiten verblüffend auf ihren Lebenswandel, ihre Arbeit, ihre Pläne, ihr kurz zuvor Erlebtes zu schließen. Kurzum: ihre verborgene Geschichte aufzudecken. Und sei es nur aufgrund einiger Sandkrümel.
Dieser geistsprühende „Profiler" war der Forensiker Dr. Joseph Bell, Dozent für Gerichtsmedizin an der Universität Edinburgh. Einst lauschte und assistierte ihm fasziniert ein Studiosus namens Arthur Conan Doyle, der später einmal äußern sollte: „Es ist schon lange einer meiner Grundsätze, dass die kleinsten Dinge bei weitem die wichtigsten sind." Und: „Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrigbleibt, die Wahrheit – wie unwahrscheinlich sie auch ist."
Wenn Opa Maler war, der Vater und einige Onkel gleichfalls, möchte man annehmen, dass der Sohn ebenfalls diesem Weg folgen würde. Doch wenn Mary, seine Mutter, eine begnadete Erzählerin, ihren Kindern Mut und Siegeswillen mit Geschichten einzuträufeln suchte – nicht zuletzt, um sie die Trunksucht, gar die Einweisung des depressiv-epileptischen Gatten in die „Irrenanstalt" vergessen zu lassen –, dann mag man künstlerisch durchaus das Gleis wechseln. Es gelang Arthur Ignatius Conan Doyle, wie der Autor mit vollem Namen hieß, mit überwältigendem Erfolg, „den Geschichten seiner Kindheit mit dem Weben eigener Erzählungen nachzueifern". Mit eben jenem Dr. Bells’ Charakteristika nachmodelliertem Meisterdetektiv Sherlock Holmes schuf er einen weltweit bekannten Protagonisten.
Doyle praktizierte zwar etliche Jahre als Arzt, indessen mit eher mäßigem Zulauf. Nicht nur, dass der Schriftsteller früh zu Feder und Tintenfass griff. Überhaupt war der Brite ausnehmend beschenkt mit einem Füllhorn an Talenten, weitläufigsten Interessen und einem sich durch sein ganzes Leben hindurchwirkenden vehementen Schuss couragierten Abenteuergeistes.
Er gefiel sich als Freimaurer, Fußballtorwart (Portsmouth), Erfinder, zunehmend spleeniger Spiritualist, glänzender Detektiv und Kriminalanalyst, Parlamentskandidat („fortschrittlich-konservativ"), Cricketspieler, Operettenlibrettist, Freigläubiger, leichtgläubiger Elfenfreund, Golfspieler, Wanderfreund, Skilangläufer, Schiffsarzt auf einem Walfänger, kühner Automobilist, Boxer und begeisterter Billardspieler sowie als Medizin-Forscher. Er besuchte Robert Koch in Berlin, obschon er die Deutschen wenig mochte, denen er mit seinem Werk „Der Tauchbootkrieg" unfreiwillig eine gebrauchsfertige Vorlage für den U-Boot-Angriff auf England geliefert hatte. Zudem war er Brandmarker der Gräueltaten des belgischen Monsterkönigs Leopold II. Und Mordverdächtiger war er selbst auch noch.
Leserschaft reagierte empört und protestierte
Im Dezember 1887 veröffentlichte der 27-jährige Autor „Eine Studie in Scharlachrot". Zunächst wollte sie kein Mensch drucken. So vergab Doyle sie für vergleichsweise kärgliche 25 Pfund. Dieses zunächst so verschmähte Werk war der Erstling unter nur vier Romanen mit Sherlock Holmes; dessen weitere Ermittlungen versammeln sich in 56 Kurzgeschichten. Alle Werke atmen ein sogleich wohlig-anheimelndes, versponnenes Ambiente, worin generell ein viel zu wenig herausgestrichenes Erfolgselement liegen mag. Vornehmlich in der Baker Street 221b erwartet den Leser stets ein heimeliges Ambiente: „Es war eine wilde stürmische Nacht gegen Ende November. Holmes und ich hatten den ganzen Abend schweigend beieinandergesessen, er damit beschäftigt, unter Zuhilfenahme einer Lupe die verblichenen Buchstaben der alten Inschrift eines Palimpsests zu entziffern. Draußen heulte der Wind die Baker Street entlang, und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben." Der Erfolg war so stürmisch wie jene Londoner Nacht im Jahre 1894. Doyle wurde ein reicher Schotte. Doch all zu früh schon versuchte er das Duo Holmes/Watson abzuschütteln. Er mochte als Schriftsteller lieber mit achtbareren Werken brillieren, darunter auch in Fantasy. Man denke an das farbige, spannende „The Lost World" aus dem Jahr 1912, in dem er ein Plateau am Amazonas nach Sauriern erkunden lässt. Der kauzige Professor Challenger und seine Entourage stoßen dabei auf feindselige Affenmenschen, die die Reisenden zu verspeisen beabsichtigen.
Am 4. Mai 1891 beging Dr. Doyle – obschon Mama Mary, hingerissen von seinen Holmes-Erzählungen, ihn davon inständig abzuhalten suchte – einen der abscheulichsten Morde der gesamten Literaturhistorie. Indem er Holmes mit seinem ebenbürtigen Erzfeind Professor Moriarty im Berner Oberland „in gegenseitiger Umschlingung zusammen in den Abgrund" stürzen ließ. „Jeder Versuch, die Leichname auffinden zu wollen", berichtet erschüttert Doktor Watson, „hatte schlechterdings hoffnungslos bleiben müssen; und so ruhen denn tief unten in dem schauerlichen Kessel inmitten der tosenden Sturzwellen und des kochenden Gischtes für immerdar Seite an Seite der gefährlichste Verbrecher und der kühnste Vorkämpfer des Rechtes."
Was sodann über Doyle hereinbrach, war ebenso rauschend wie der Wassersturz, man würde es heutzutage einen „Shitstorm" nennen; Beschimpfungen waren noch eine milde Resonanz, wenn man eine Handtaschen-Attacke anrechnet. 20.000 Leser kündigten empört ihr Abonnement des Magazins „Strand". Nach einer Dekade der Standhaftigkeit strechte Doyle die Waffen und ließ sich für den übermütig geforderten „Mondpreis" von 1.000 Pfund für ein Dutzend Kurzgeschichten erweichen. Der Gegenwert heute würde sich auf etwa 400.000 Euro belaufen. Zu Doyles Verdruss erklärte sich der Verleger sofort einverstanden. So ließ Doyle seinen Freund Sherlock nebst Stichwortgeber Watson in der Story „Das leere Haus" wieder auferstehen. Die Rückkehr war ebenso kunstvoll wie knifflig verschwurbelt. Wie man erfuhr, hatte der Meister sich nämlich durch asienimportierte Baritsu-Griffe dem Bösewicht in letzter Sekunde entwunden und selbigen allein in den helvetischen Abgrund segeln lassen.
Doyle starb an Folgen eines Herzinfarkts
Die Sherlockianer der „Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft" weisen gerne darauf hin, dass Doyle Kriminaltechniken innovierte, die erst Jahre später bei Scotland Yard und im Ausland Anwendung fanden: „Fingerabdrücke (Doyle bezieht sich 1890 in „The Sign of Four" darauf, erste tatsächliche Anwendung 1892 bei einem Fall in Argentinien), eindeutige Identifikation von Blutflecken (Holmes findet eine chemische Methode in „A Study in Scarlet" 1887, tatsächlich wurde diese erst 1901 entdeckt), Analyse von schreibmaschinengeschriebenen Schriftstücken (bei Holmes erwähnt in „A Case of Identity" 1891, erste wissenschaftliche Schrift darüber 1894 von Hagan), Holmes über die Entfernung eines abgefeuerten Schusses aus einer Handfeuerwaffe (erwähnt 1893 in „The Reigate Squires", wissenschaftliche Schrift 1898 von Corin)."
Sir Arthur Conan Doyle war nicht etwa, wie man meinen möchte, für Sherlock Holmes in den Adelsstand erhoben worden. Vielmehr für seine Verdienste als Regierungs-Propagandist und Kriegsberichterstatter in Sachen „Südafrikanischer Krieg". Seine Lordschaft zu werden blieb ihm jedoch verwehrt, denn über seinen immer abstruseren Hang zum Okkulten – den Kriegstod seines Sohns betrauernd hatte Doyle sich dem Mystizismus zugewandt – war die Monarchie nicht hinreichend amüsiert.
Den Gipfel des Ruhms hatte er lange erklommen, da ereilte Doyle ein Herzinfarkt. Er verließ seine weltweite Leserschaft nach kurzem Leiden am 7. Juli 1930. „Ich habe jegliche denkbare menschliche Erfahrung gemacht, und ich habe viele der bemerkenswerten Männer meiner Zeit kennengelernt…", gab sich Doyle zufrieden, ja dankbar für seinen Lebensweg. Er war zweimal verheiratet, aus den beiden Ehen stammten fünf Kinder.
Der Schauspieler Basil Rathbone gilt als ideale Verkörperung des Sherlock. Daran werden vor allem die aktuellen Neuverfilmungen – über deren einen die FAZ urteilte: „Ein idiotischer Plot, ohne große Sorgfalt zusammengeflickt" – nichts ändern, in denen der Stilwille des Autors kaum gebührend respektiert wird. Rathbone wird man in seinen 14 Holmes-Filmen immer wieder bei der Arbeit bewundern können. Auf Papier auch den hochbegabten, jedoch trägen und herablassenden Mycroft Holmes, der allzu gerne den älteren Bruder herauskehrt, nicht selten naserümpfend: „Aber hierhin und dorthin laufen, einen Eisenbahner ins Kreuzverhör nehmen, auf dem Bauch liegen und das Vergrößerungsglas vor den Augen haben, das ist nicht mein Metier."
Geschichten sind bis heute extrem beliebt
In Deutschland zählen die Sherlock-Holmes-Hörspiele noch immer zur Crème de la Crème dessen, was uns das Radio feiertäglich zu bieten hat. In die erste Reihe der Holmes-Sprecher gehören dabei früh Alexander Kerst, später Walter Renneisen, auch Christian Rode; vor allem aber Peter Pasetti. An seiner Seite der große Synchronsprecher Erik Schumann als Dr. Watson, der uns am Ende von „London im Nebel" wissen lässt: „Einige Wochen später erfuhr ich, dass Holmes einen Tag in Windsor verbracht hat, von wo er mit einer ungewöhnlich schönen Smaragd-Krawattennadel zurückkehrte. Auf die Frage, wo er sie gekauft habe, antwortete er, sie sei ein Geschenk einer sehr erlauchten Dame, für die er einen Auftrag habe erledigen können, der im Londoner Nebel begann …"
Trotz seines Kokainkonsums: Pfeifenraucher Sherlock Holmes bleibt unvergänglich. Wie Orson Welles uns zu trösten weiß: „Er war ein Gentleman, der nie gelebt hat – und deshalb wird er auch niemals sterben."