Vor 45 Jahren, am 26. November 1976, veröffentlichten die Sex Pistols ihre Debütsingle „Anarchy in the U.K." und lösten damit einen Skandal aus. Nur ein richtiges Album brachte die legendärste aller Punkbands bis heute heraus, doch das reichte, um die Musik, die Popkultur und das Lebensgefühl gleich mehrerer Generationen von Grund auf zu verändern.
Die Sex Pistols existierten gerade einmal 26 Monate. Aber ihre Musik und ihre durch Vivienne Westwood inspirierte Antimode kamen mit der Wucht einer Kulturrevolution daher. In England, dem Mutterland distinguierter Popmusik und perfekter Manieren, galten Johnny Rotten (*1956), Steve Jones (*1955), Glen Matlock (*1956), Paul Cook (*1956) und Sid Vicious (*1957, †1979), der später im Delirium seine Freundin Nancy Spungen erstach, als die bösen Buben schlechthin. Sie wurden wegen angeblicher Obszönitäten verklagt, von Royalisten verprügelt und von der Polizei verhaftet. Aber ihre Platten verkauften sich millionenfach.
Ihr erstes Konzert gaben die Sex Pistols am 6. November 1975 am Saint Martins College in London, wo ihr erster Bassist Glen Matlock studierte. Zu dem Zeitpunkt spielte Steve Jones erst seit drei Monaten Gitarre. Er gestand später, dass synthetische Drogen ihm dabei geholfen hätten, sich auf das Instrument zu fokussieren.
Blaupause des Punk geschaffen
In Ermangelung eigener Songs boten sie hauptsächlich Cover-Stücke wie „(I’m Not Your) Steppin‘ Stone" von den Monkees, „Whatcha Gonna Do About It" von den Small Faces oder „Substitute" von The Who dar. Nach 20 Minuten bei voller Lautstärke zog die Hauptband des Abends, Bazooka Joe, den Stecker. Sie hatte Angst um ihre Anlage. Das führte zu einem Bühnen-Faustkampf zwischen Mitgliedern der beiden Gruppen. Am Ende war der Bassist von Bazooka Joe so beeindruckt von den Sex Pistols, dass er eine eigene Punkband gründete, Adam & The Ants.
Am 26. November 1976 veröffentlichten die Mannen um Johnny Rotten bei der traditionsreichen EMI ihre erste Single, „Anarchy in the U.K.". Ein selbstgeschriebener, giftiger Text und rohe musikalische Energie spiegelten ein in den späten Siebziger-Jahren entstandenes, allgegenwärtiges Gefühl der Jugend von Wut, Verbitterung, Verwirrung und Unruhe wider. Mehrere im Studio übereinander geschichtete Gitarrenspuren von Steve Jones erzeugten eine „brennende Soundwand", während Johnny Rotten sang, „als wären seine Zähne bis auf die Spitze abgeschliffen worden". Damit schufen die Sex Pistols die Blaupause des Punk, ein Bekenntnis zur Selbstbestimmung, zur ultimativen Unabhängigkeit.
Sie sollten eigentlich 19 Shows im Vereinigten Königreich spielen, um ihree Single zu promoten. Heute gilt diese Tournee als ein Schlüsselmoment der Musikgeschichte – sowohl für das, was nicht geschah, als auch für das, was geschah. Der Auftakt war für den 3. Dezember 1976 in der University of East Anglia in Norwich geplant. Das Konzert fand aber nicht statt, denn der Vizekanzler der Uni hatte es „aus Gründen des Schutzes der Sicherheit von Personen und Eigentum" verboten. Die darauf folgenden Schlagzeilen bewirkten, dass viele weitere Shows unter dem Druck der Stadtverwaltungen abgesagt wurden, da sie Gewalt und Vandalismus befürchteten. Unbeirrt reisten die Sex Pistols weiter durch das Land, in der Hoffnung, spielen zu können oder zumindest ihre Gage zu bekommen.
45 Jahre später hat „Anarchy in the U.K." den Weg ins Museum gefunden. Laut dem Magazin „Rolling Stone" gehört die Single zu den 500 größten Songs der Musikgeschichte, und die weltberühmte Rock and Roll Hall of Fame ehrt sie als einen der „500 Songs, die den Rock and Roll prägten".
Zwei Millionen verkaufte Alben
Weltstar Mick Hucknall von Simply Red sah die Sex Pistols 1976 als 16-Jähriger live. „Was mich an der Band begeisterte, war nicht ihr Musikstil, sondern ihre Fähigkeit, junge Kids wie mich zu inspirieren", erinnert er sich mit leuchtenden Augen. „Sie gaben mir wirklich das Gefühl, dass ich das auch kann. Sie waren keine meisterhaften Instrumentalisten, sie waren wie du und ich. Ihre Musik klang, wie im Schafzimmer gemacht. Ihnen gegenüber standen Unberührbare wie die Rolling Stones und Led Zeppelin. Die Sex Pistols haben mich und meine Freunde dazu inspiriert, uns zu einer kleinen Band zusammenzutun. So hat meine Karriere angefangen." Obwohl die Sex Pistols anfangs ihre Instrumente kaum beherrschten, und ihr Frontmann alles andere als ein Stimmenvirtuose war, entwickelte sich ihr im Oktober 1977 erschienenes Debütalbum „Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols" (dt.: „Schluss mit dem Scheiß, hier sind die Sex Pistols") zum erfolgreichsten und wichtigsten Punk-Longplayer der Musikgeschichte. Ironischerweise wurde er von Pink Floyd-Produzent Chris Thomas betreut.
Zweieinhalb Monate später war der Spuk vorbei. „Ha! Ha! Hattet ihr jemals das Gefühl, betrogen zu werden?", fragte Johnny Rotten am 14. Januar 1978 provokant von der Bühne des Winterland Ballroom in San Francisco herab, warf den Mikrofonständer in die Ecke und verschwand von der Bildfläche.
Das rüde Ende der Poster Boys des Punk wird auf die ständigen Querelen mit ihrem Manager zurückgeführt. Der geschäftstüchtige Malcolm McLaren hatte die Band eigentlich als Gegenentwurf zu den smarten Bay City Rollers gecastet – und half dann aber an vorderster Front mit, die Punkbewegung entgegen ihren ursprünglichen Idealen zu kommerzialisieren. In dem berühmten Punkfilm „The Great Rock’n’Roll Swindle" von Julien Temple – entstanden nach einer Idee von McLaren – erzählt der 2010 verstorbene Manager höchstselbst von einer akribisch geplanten und durchgeführten Aktion, die einzig der Geldvermehrung diente. „Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols" ging bis heute fast zwei Millionen Mal über den Ladentisch.
Waren Aufstieg und Fall der Sex Pistols und die ganze Punkbewegung also doch bloß Theater, ein hinterlistiges Spiel mit den nach Aufmerksamkeit heischenden Medien und der Jugendkultur? Prägendes Motto für die ursprüngliche Bewegung war der Refrain eines Sex-Pistols-Stücks: „No Future". „Ich habe vom ersten Moment an gelernt, dass Erfolg absolut nichtssagend ist", gestand Johnny Rotten alias John Lydon vor einiger Zeit dem Autor dieser Zeilen. „Er löst in dir selbst überhaupt nichts aus, sondern führt eher zu noch größeren Problemen, die du als junger Mensch überhaupt nicht bewältigen kannst. Es sei denn, es handelt sich um mich! Es war nie der Erfolg, der mir Freude gemacht hat, sondern immer nur die Arbeit. Das Formen der Songs".
Als Achtjähriger schwer erkrankt
Ohne neue Songs im Gepäck meldete die Band sich 1996, 2007 und 2008 jeweils mit Reunion-Konzerten zurück. Die lukrativen Nostalgie-Shows der Altherren-Combo wurden von Kritikern größtenteils als traurig empfunden, weil die Ironie, die Anarchie und die Verärgerung der Anfangszeit verschwunden waren. „Sie haben ihre Swimming Pools zu Hause nur verlassen, um noch mehr Geld zu verdienen". John Lydon, der mittlerweile 65 Jahre alt ist und seine demente deutschstämmige Frau Nora Forster (80) rund um die Uhr pflegt, pocht darauf, trotz des Ruhmes kein verhätscheltes Leben zu führen. „Für einen Armen ist es leichter, in den Himmel zu kommen als für einen Reichen. Das einzige, was ich aus dem Religionsunterricht behalten habe, ist: Gier bringt dich nicht weiter! Wir Menschen sind nur deshalb primitiv, weil wir uns nicht erlauben, das Leben zu bejahen".
Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen als ältester von vier Söhnen einer irischen Arbeiterfamilie, diagnostizierten die Ärzte bei dem achtjährigen Johnny eine Hirnhautentzündung, infolgedessen er ein Jahr zu Hause bleiben musste. Mit 14 war er bereits ein Rebell, trug grüne Nagelschuhe und Lederjacke. 1978 schließlich textete Neil Young über den charismatischen Sex-Pistols-Sänger: „Hey hey, my my/Rock and Roll can never die/The king is gone but he’s not forgotten/This is the story of a Johnny Rotten/It’s better to burn out than it is to rust". Und machte ihn endgültig zur Ikone des Punkrock. John Lydon erzählte, er habe daraufhin Kontakt zu Youngs Management aufgenommen. „Sie schickten mir eine weitschweifige Antwort, aus der hervorging, dass Neil Young in Wahrheit gar nicht wusste, wer ich war."