Viktoria Berlin lässt seinen torgefährlichsten Spieler ziehen – gegen eine stattliche Ablöse und auf Wunsch des Profis. Ob der Deal auch aufgeht, werden erst die nächsten Monate zeigen.
Für Tolcay Cigerci war die Sache schnell klar. Kurz vor seinem 27. Geburtstag erhielt der Fußballprofi aus seiner türkischen Heimat eine unerwartete Chance: Der Zweitligist Samsunspor klopfte beim Offensivspieler von Viktoria Berlin an und bot einen Vertrag über zweieinhalb Jahre inklusive einer deutlichen Gehaltssteigerung. Und nicht nur das, der ambitionierte Club vom Schwarzen Meer überzeugte Cigerci auch mit dem klaren Ziel „Aufstieg in die SüperLig", wo Samsunspor einst einer der stärksten Vereine überhaupt war. Cigercis persönlicher Aufstieg hätte aber noch am Veto seines aktuellen Arbeitgebers scheitern können, doch Viktoria willigte in den Drei-Parteien-Deal ein. Es ist quasi eine Win-win-win-Situation – allerdings liegt das größte Risiko bei den Himmelblauen. Denn der mit 14 Scorerpunkten effektivste Spieler im Kader steht ab sofort nicht mehr zur Verfügung. „Es war Tollis Wunsch", bestätigte Trainer Benedetto Muzzicato im Gespräch mit Forum: „So ist der Fußball: Wenn einer so auf sich aufmerksam macht und den Wunsch hat, in seinem Heimatland bei einem ambitionierten Club zu spielen und natürlich auch mehr Geld zu verdienen, dann muss man damit klarkommen." Er selbst sei frühzeitig in Cigercis Überlegungen eingeweiht gewesen und könne dessen Beweggründe absolut nachvollziehen: „Bei Samsunspor gibt es ein sehr ambitioniertes Umfeld, ein klasse Stadion, super Fans. Und er hat noch mal die Chance auf die Erste Liga."
Muzzicato sieht Wechsel realistisch
Außerdem habe er bei Transfers eine realistische Herangehensweise, verriet Muzzicato. „Wir sind im Leistungssport, da muss man gewisse Dinge akzeptieren", sagte der Deutsch-Italiener: „Hätte es uns etwas gebracht, wenn man ihn gezwungen hätte zu bleiben? Da bin ich immer sehr skeptisch." Gute Spieler werden von größeren Vereinen abgeworben – das sei nicht nur bei Viktoria so. „Das ist bei Borussia Dortmund auch nicht anders, wenn Erling Haaland irgendwann sagt: Ich will den Club wechseln." Am Ende sollte für den abgebenden Verein aber zumindest immer das Geld stimmen.
Wie viel Geld genau auf das Viktoria-Konto geflossen ist, wurde öffentlich nicht bekannt. Man kann aber davon ausgehen, dass die Berliner ihren torgefährlichsten Angreifer mitten in der Saison nicht unter dessen Marktwert (350.000 Euro/Quelle: transfermarkt.de) haben ziehen lassen. Die Aussagen von Sportdirektor Rocco Teichmann lassen zumindest erahnen, dass die Ablöse für Drittliga-Verhältnisse und in Zeiten der Corona-Pandemie außergewöhnlich hoch gewesen sein muss. „Wenn bestimmte wirtschaftliche Angebote gemacht werden, die wir als aufstrebender Drittligist nicht ablehnen können", sagte Teichmann, „stehen wir einem Transfer auch nicht im Wege." Zumal es der Club-Philosophie entspricht.
„Wir verstehen uns als Verein, der Spieler ausbildet, besser macht und ihnen den Weg in höhere Ligen ebnet, sei es in Deutschland oder im Ausland", erklärte Teichmann. Viktoria hat mit 41 Jugendmannschaften eine der größten Nachwuchsabteilungen der Hauptstadt, ein nicht unerheblicher Teil des Geldes der Investoren Zeljko und Tomislav Karajica fließt in den Unterbau. Bei der U19 zum Beispiel sind neben dem Trainerteam auch Physiotherapeuten und Videoanalysten dabei, das neue multifunktionale Trainingsgelände in Mariendorf bietet inzwischen deutlich bessere Bedingungen.
In Zukunft sollen es noch mehr Spieler wie Tobias Gunte aus dem eigenen Nachwuchs in den Profikader schaffen. Cigerci wurde zwar nicht bei Viktoria ausgebildet, der frühere U18-Nationalspieler der Türkei wechselte erst im vergangenen Sommer zum Drittliga-Aufsteiger. Er steht dennoch für die Vereinsstrategie, Spieler besser zu machen und bei einem entsprechenden Angebot auch den nächsten Schritt woanders gehen zu lassen.
Das eingenommene Geld hilft zwar bei der Suche nach einem Nachfolger –aber es ist keine Garantie, dass die Verantwortlichen auch fündig werden. „Natürlich sitzen wir zusammen und versuchen, einen Spieler in der Winterpause an Land zu ziehen, der dieselbe Effektivität im letzten Drittel hat", sagte Muzzicato. Eine leichte Aufgabe sei das aber nicht, Cigerci war mit seiner Abschlussstärke und seinem Spielverständnis ein Schlüsselspieler. In den Partien, in denen er wegen einer Verletzung oder Sperre fehlte, „hat uns seine Effektivität klar gefehlt", sagte der Trainer: „Ein wichtiger Teil bricht weg, den müssen wir kompensieren. Wir müssen kreativ sein."
Das betrifft die Suche auf dem Transfermarkt, aber auch die Arbeit mit dem aktuellen Kader. Muzzicato hofft, dass Cigercis Weggang auch eine Chance für junge Angreifer in seinem Team ist. Vom 22-jährigen Lucas Falcao zum Beispiel erhofft sich der Trainer einen Leistungssprung in den kommenden Wochen und Monaten. „Er ist ein junger Bursche, der etwas mehr Anlaufzeit in der Liga gebraucht hat als Cigerci", sagte Muzzicato, „aber auch er hatte in fast jedem Spiel seine hundertprozentigen Chancen."
Wäre der Brasilianer etwas kaltschnäuziger vor dem gegnerischen Kasten, „stünde er jetzt bei einer zweistelligen Torausbeute", ist sich Muzzicato sicher: „Aber das weiß er auch. Für ihn ist es die allererste Saison im Profifußball, deswegen sind wir alle geduldig." Ähnliches gilt für Enes Küc. Der dribbelstarke Offensivspieler habe eine „fantastische Hinrunde" gespielt, meinte Muzzicato – auch wenn die magere Torausbeute von nur einem Treffer eine andere Sprache spricht. „Im letzten Drittel hat er viel zu wenig aus seinen Möglichkeiten gemacht", weiß auch der Trainer: „Da muss er effektiver werden."
Der Trainer fordert von Küc mehr Effektivität
Noch mehr Tore und Assists erhofft sich Muzzicato auch vom lange verletzten Pasqual Verkamp, der diese Qualitäten eine Liga tiefer bei Carl Zeiss Jena bereits nachgewiesen hat und „weiß, wo das Tor steht" (Muzzicato). Zudem dürften durch den Cigerci-Abgang auch Moritz Seiffert und Soufian Benyamina mehr Möglichkeiten bekommen, sich zu beweisen. Und dann ist da ja auch noch Christopher Theisen, der mit seinem Doppelpack zum Rückrundenstart gegen Viktoria Köln bewiesen hat, dass er auch auf einer offensiveren Position helfen kann.
„All das macht Mut", sagte Muzzicato. Denn es sei „natürlich" auch eine Gefahr, Cigerci abzugeben, ohne dass der Klassenerhalt bereits halbwegs gesichert ist. Doch Schlagzeilen wie „Viktoria lässt seinen besten Spieler ziehen" liest Muzzicato gar nicht gerne. „Da gehe ich so uneingeschränkt nicht mit", sagte er, „da muss man klar differenzieren: Tolli war der effektivste Spieler, aber wir haben auch andere, die genauso gut performt haben wie er – nur auf einer anderen Position."
Im Fußball sind aber die Tore das Wichtigste, und die müssen nun andere schießen. „Ich mag diese Herausforderung, jetzt auch ohne Tolli bestehen zu müssen", versicherte der Trainer. Ob der Cigerci-Wechsel am Ende aber auch für Viktoria ein Gewinn ist, „können wir erst in fünf Monaten sagen." Cigerci selbst glaubt fest daran, dass sein Ex-Klub durch seinen Weggang nicht ins Straucheln gerät: „Der Ehrgeiz und die Visionen des Clubs sind absolut beeindruckend."