Mit Corona ist die Einkommensarmut auch in Deutschland gestiegen. Die Armutsforscherin Claudia Vogel spricht über die gesundheitlichen und sozialen Folgen.
Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband hat die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent im Pandemie-Jahr 2020 einen neuen Höchststand erreicht. Was macht Armut mit den Menschen?
Arme Menschen haben eine deutlich kürzere Lebenserwartung, laut Studien des Robert Koch-Instituts beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung rund zehn Jahre. Es gibt auch gesell-schaftliche Auswirkungen: Wenn man ein höheres Lebensalter erreicht hat, kann man seinem Schicksal nicht mehr entrinnen. Man kann etwa nicht mehr so leicht den Beruf wechseln und hat kaum Möglichkeiten, eine niedrige Rente noch aufzubessern. Das spaltet die Gesellschaft. Wenn Armut dauerhaft wird, nehmen viele betroffene Menschen nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil.
Warum? Weil sie sich etwa Bus- und Bahnfahren nicht mehr leisten können?
Ja, Mobilität ist ein Aspekt. Hinzu kommt, dass Armut schambehaftet ist. Die Menschen ziehen sich lieber zurück, als zuzugeben, dass sie sich den Verein, kulturelle Veranstaltungen oder die Teilnahme an einem Picknick nicht leisten können. Viele schämen sich auch, Leistungen wie Grundsicherung in Anspruch zu nehmen, dabei hat jeder bedürftige Mensch ein Anrecht darauf.
Inwieweit haben die Anti-Coronamaßnahmen die Armut verstärkt?
Die Schere geht in der Pandemie weiter auseinander, denn die Einkommensungleichheit ist stark gestiegen. Auf der einen Seite gab es Lockdowns und Kurzarbeitergeld, was zu Einkommenseinbußen geführt hat, die bei kleinen Einkommen deutlicher spürbar sind. Man muss aber auch die Ausgabenseite sehen: Einkommensarme Menschen sind auf soziale Angebote wie etwa die der Tafel angewiesen. Doch Angebote dieser Einrichtungen waren zeitweise nicht zugänglich, sodass die Menschen nur noch zu höheren Preisen in Supermärkten einkaufen konnten. Hinzu kommen teurere Lebensmittel und gestiegene Energiepreise.
Welche Gruppen sind besonders stark von Armut betroffen?
Das ist statistisch relativ komplex. Menschen mit Migrationshintergrund haben die höchste Armutsquote überhaupt. Wenn man die Zahlen aber nach anderen Kriterien analysiert, etwa hinsicht-lich des Alters, dann haben die Jüngeren bis 25 die höchste Armutsquote, weil sie noch ganz am Anfang ihrer Erwerbskarriere stehen. Dann kommen die Älteren über 65 mit der zweithöchsten Armutsquote. Man kann sagen, dass die Kinderarmut in den letzten Jahren gestiegen ist, weil die Armut in den Familien gestiegen ist. Wenn der Vater oder die Mutter im Niedriglohnsektor beschäftigt ist und noch mehrere Kinder im Haushalt leben, ist man sehr schnell unterhalb der Armutsgrenze. Zudem sind tatsächlich viele Alleinerziehende von Armut betroffen. Der Armutsbericht des Paritätischen hat noch mal die statistische Blickrichtung geändert: Wenn wir alle Menschen in Deutschland betrachten, die von Armut betroffen sind, zeigt sich, dass ein Drittel aller armen Menschen 65 Jahre und älter ist, weil es so viele ältere Menschen gibt. Die Armutsquote selbst ist gar nicht so hoch, wohl aber die Zahl der Köpfe, die dahintersteckt.
Sie reden von absoluten Zahlen?
Ja. Ein bis zwei Millionen Kinder in Armut sind viele, aber es sind eben nicht drei bis vier Millionen wie bei den Älteren. Deswegen muss man gut abwägen, wo man das Problem statistisch als am gravierendsten abliest. Ich möchte keinen Bewertungsunterschied machen. Armut ist in jedem Lebensalter schlimm. Es hat gravierende Folgen für die individuelle Lebensplanung, für die Gesundheit, für die sozialen Kontakte. Deswegen würde ich nicht sagen, dass man jetzt eine Gruppe bei der Armutsbekämpfung in irgendeiner Form bevorzugen sollte. Es gibt aber Studien, die zeigen, dass ältere Menschen sehr viel weniger egoistisch sind, als man denkt. Gute Renten würden nicht nur der älteren Generation zugutekommen, sondern auch den Familien, die von den Älteren unterstützt werden. Nicht nur und nicht in erster Linie finanziell, sondern weil ältere Menschen dann in den Familien mehr übernehmen, aktiver sind, die mittlere Generation der Eltern entlasten können, wenn die Enkelkinder mal wieder Betreuung brauchen. Es hat tatsächlich positive Effekte, die über die eigene Generation deutlich hinausgehen.
Warum ist in Deutschland als einem der reichsten Länder ein nicht unbedeutender Teil der Menschen immer noch arm?
Viele Menschen, die in Armut leben, machen die Erfahrung, dass sie keine Lobby haben. Es gibt niemanden, der sich für sie einsetzt und für sie kämpft. Zum Teil mangelt es daran, dass es keinen politischen Willen für Armutsbekämpfung gibt. Das zweite ist, dass wir zwar einen gut aufgestellten Sozialstaat haben. Ich beklage aber, dass er sich in die falsche Richtung entwickelt. Aus meiner Sicht müsste er noch stärker ausgebaut und nicht zurückgebaut werden. Dass es solche Leistungen wie Grundsicherung gibt, ist erst mal toll. Es muss aber mehr dafür getan werden, dass die Leistungen von den betroffenen Menschen auch wirklich in Anspruch genommen werden. Mir wäre das ein großes Anliegen, dass die Anträge leichter und unbürokratischer zu stellen sind. Dass die Menschen mehr Beratung kriegen, ihre Anträge zu stellen und dass es ihnen nicht so schwer gemacht wird, die Leistungen, die ihnen zustehen, tatsächlich auch zu erhalten. Armut muss nicht immer ein existenzieller Mangel sein. Es ist oft ein sozialer Mangel, dass die Menschen nicht sozial teilhaben können. Wir sprachen über Freizeitgestaltung, das Vereinsleben, die Kultur, etwas, was wichtig ist für unser Leben, was uns ausmacht. Davon sind sie ausgeschlossen, bis hin zu entsprechenden Bildungsangeboten.
Haben Sie eine Prognose für die Zukunft?
Der Blick in die Glaskugel ist immer schwierig. Die Entwicklung ist auf jeden Fall besorgniserregend. Erstens, weil sich die Verschärfung der sozialen Ungleichheit weiter zeigt. Die sehen wir an den Einkommen, die sich auseinanderentwickeln. Das zweite, was mir große Sorgen macht, ist, dass die Alterseinkommensungleichheit weiter zunehmen wird. Unser Rentensystem war so gedacht, dass man drei Säulen hat: die gesetzliche und die betriebliche Rente sowie die private Vorsorge. Wir sehen in vielen Studien, dass die Menschen, die wirklich armutsgefährdet sein werden, es nicht schaffen, betrieblich und privat fürs Alter vorzusorgen. Wir werden in den nächsten Jahren eine deutlich steigende Armutsquote sehen, wenn nicht politisch etwas dagegen unternommen wird.
Wie könnte ein Gegensteuern aussehen?
Ich selbst bin ein großer Fan von der gesetzlichen Rentenversicherung und würde gerne das Umlageverfahren wieder deutlich stärken. Also das Rentenniveau nicht weiter absenken, sondern so hoch halten, wie es eben geht. Und solche Instrumente wie die Grundrente noch etwas ausweiten, sodass mehr Menschen wirklich eine gute Rente erhalten, ohne auf zusätzliche private Vorsorge angewiesen zu sein.