Die Europa-Expertin Dr. Funda Tekin spricht über demokratische Werte, Erweiterungspolitik, die Rolle Europas im Krieg gegen die Ukraine und die Aussicht auf einen föderalen, europäischen Bundesstaat.
Frau Dr. Tekin, der Europatag am 9. Mai steht für Frieden und Einheit in Europa. Welchen Stellenwert hat dieser Tag heute noch?
Der Tag bietet auf jeden Fall die Gelegenheit, die europäische Einigung in den Fokus zu setzen. Gerade in jüngeren Generationen gelten viele europäische Werte als Selbstverständlichkeit in dem Sinn, dass man diese Dinge nicht mit dem europäischen Integrationsprozess an sich mehr in Verbindung bringt. Praktische Beispiele sind der Schengenraum, in dem es möglich ist, von einem Land in ein anderes ohne Grenzkontrollen zu reisen, oder auch die gemeinsame Währung. Ebenfalls und in Anbetracht von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sehr relevant ist die Sicherung von Frieden in Europa. Hierbei handelt es sich um den Grundstein der europäischen Einigung und eines der ältesten Narrative der europäischen Integration. Das war auch jahrzehntelang erfolgreich und ist somit in den Hintergrund getreten. Im Jahr 2012 hat die EU sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Und heute müssen wir uns ganz besonders daran erinnern und dafür einstehen.
Was braucht es, damit der 9. Mai nicht als leere Hülle eines kurzen, eintägigen Events schnell wieder in Vergessenheit gerät, sondern dass die europäischen Werte so mit Leben gefüllt werden, dass die Menschen sie auch verinnerlichen können?
Generell müssen wir die Bürger und Bürgerinnen immer wieder über die Errungenschaften der europäischen Integration informieren, sodass diese nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden, für die man sich nicht mehr zu engagieren braucht. Für mich ist dieser informierte Dialog ganz wichtig. Hierfür braucht es hauptsächlich auch den transnationalen Austausch zwischen den Menschen. Da gibt es verschiedene Programme, die die Europäische Union auch fördert: Etwa das Erasmus-Programm, europaweite Forschungsprogramme oder das Discover EU-Programm, für das sich junge Leute bewerben können, um kostenlos mit einem Interrail-Ticket andere Länder zu bereisen.
Wie kann Europa seine demokratischen Werte auf Dauer aufrechterhalten?
Artikel 2 des Vertrages der Europäischen Union legt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Grundwerte der Europäischen Union fest. Gleichzeitig haben wir aber einige Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, die sich davon entfernen. Die Wahlen in Ungarn haben gezeigt, dass sich diese Problematik verfestigt hat. Orban hat wieder die Zweidrittelmehrheit. Das heißt, hier ist definitiv eine fundamentale Herausforderung zu sehen. Jetzt gibt es eine ganze Palette an Mechanismen in der EU, die darauf hinwirken, dass ein Mitgliedstaat die Rechtsstaatlichkeit achtet und einhält. Dazu dient zum Beispiel der Rechtsstaatsmechanismus mit den jährlichen Rechtsstaatsberichten und -dialogen. Und es gibt nun die neue „Rechtsstaatskonditionalität", die es ermöglicht Verstöße auch finanziell zu ahnden, indem Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Mitgliedstaaten gekürzt oder aus den Strukturfonds eingefroren werden können. Und es gibt das Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH, das die Kommission dann immer anregen kann, wenn ein Staat die Verträge nicht einhält. Jetzt muss man sagen, für Ungarn sind all diese Mechanismen angewandt worden – bisher jedoch ohne tatsächlich Wirkung zu zeigen.
Wie sollte die EU mit diesem Fall umgehen?
Da habe ich aktuell eher Fragen als die entsprechenden Antworten. Diese Frage, wie sie damit umgehen kann, wenn diese Rechtsstaatsmechanismen eben nicht greifen sollten, ist jedoch elementar für die EU. Das ist nicht nur in Bezug auf Ungarn sondern auch auf Polen relevant. Wenn wir innerhalb der EU Staaten haben, die die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr einhalten, dann stehen nichts weniger als die Grundwerte der Europäischen Union auf dem Spiel. Dies betrifft dann auch die Glaubwürdigkeit nach außen hin und wirkt sich auf die Erweiterungspolitik der Europäischen Union aus. Wie kann man die Einhaltung von demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerten glaubhaft als Bedingung für einen EU-Beitritt einfordern, wenn EU-Mitgliedstaaten es selbst nicht tun?
Haben Sie dafür Lösungsvorschläge?
Noch habe ich da keine finale Antwort. Es ist wichtig, dass dieses Problem immer wieder benannt wird – auch in Zeiten eines Krieges in Europa. Es ist wichtig, dass jetzt gerade die Rechtsstaatskonditionalität gegenüber Ungarn von der Kommission aktiviert worden ist. Das ist für mich auch wichtiger Ansatzpunkt, weil Geld immer ein wichtiger Hebel ist.
Könnten die demokratischen Werte Europas nicht auch von außen gefährdet werden? Etwa durch das geplante WHO-Abkommen über eine „weltweite Pandemievorsorge". Es soll der Gesundheitsorganisation ermöglichen, nicht mehr nur Empfehlungen für die Mitgliedsländer abzugeben, sondern auch Gesetze zu verabschieden, die über den Verfassungen der einzelnen Staaten stehen.
Die Verhandlungen dazu haben gerade erst begonnen. Man muss erst mal gucken, in welche Richtung es geht. Der Versuch, weltweit eine Pandemie zu koordinieren und organisieren, finde ich erst mal positiv, richtig und wichtig, weil es sich um eine weltweite Herausforderung handelt. Es hat sich gezeigt, dass man weltweit gemeinsam Lösungen finden kann, gerade wenn es darum geht, Zugang zu Impfstoffen und deren gerechtere Verteilung zu ermöglichen. Man muss aber sichergehen, dass die Souveränität der Nationalstaaten nicht angegriffen wird.
Ist der russische Einmarsch in die Ukraine vielleicht auch eine Chance für die EU, kleinere Streitigkeiten beiseitezulegen und sich auf ihre Gemeinsamkeiten zu konzentrieren?
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine bedeutet eine grundlegende Veränderung für den gesamten europäischen Kontinent. Die EU ist in ihrer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik herausgefordert. Aber auch andere Politikbereiche sind davon betroffen, wie die Migrations- und Asylpolitik, die Wirtschafts- und Energiepolitik, die Energiesicherheit und die Erweiterungspolitik. Es muss in all diesen Bereichen ebenfalls umgedacht werden. Wenn man den Begriff „Zeitenwende" von Olaf Scholz benutzen möchte, dann stellen sich einige grundlegende Fragen. Tatsächlich hat es erst mal eine solidarische Einigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gegeben. Das hat man bei den Sanktionen gesehen, die sehr schnell verabschiedet wurden. Gleiches gilt für die Temporary Protection Directive, als es darum ging, aus der Ukraine in die EU Flüchtende schnelleren Zugang zu Aufenthaltsgenehmigungen und zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wenn man bedenkt, dass diese Temporary Protection Directive seit 2001 im Rat liegt, und sie im Zuge des Krieges innerhalb von kürzesten Wochen für die Ukrainer und Ukrainerinnen verabschiedet wurde, dann ist dies als ein Zeichen der Solidarität zu sehen. Mittlerweile kommen jedoch die nationalstaatlichen Interessen wieder in den Vordergrund, und es muss verhindert werden, dass am Ende dann daraus wieder ein Patchworkteppich wird, der weitere Entscheidungen zu sehr in die Länge zieht und am Ende vielleicht sogar verhindert.
Inwieweit hat dieser Krieg die gesamte Weltordnung verändert?
Natürlich fühlt man sich schon auch an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Aber wenn man das weltweite Gesamtgefüge betrachtet, darf man nicht vergessen, dass die Welt komplexer geworden ist als sie es früher war. Hier sind Akteure wie China nicht zu vergessen, die auch noch mitspielen. Man muss im Auge behalten, wie sie sich positionieren, auch in diesem Krieg. Wir dürfen China nicht aus dem Auge verlieren, nur weil wir gerade sehr mit Russland beschäftigt sind.
Manchmal hat man den Eindruck, dass es mehr um einen Stellvertreterkrieg geht zwischen Moskau und Washington. Was ist die konkrete europäische Position in diesem Krieg?
Natürlich könnte man sagen, dass Europa in einer Sandwichposition ist. Aber wenn man zum Beispiel eine Person aus Finnland fragen würde, was die Position der Europäischen Union in diesem Krieg ist, dann wird die Antwort relativ eindeutig sein, weil es dort eine direkte Grenze zu Russland gibt. Wir dürfen nicht vergessen, dass es einen Angriff auf die Ukraine gibt, er aber auch auf Mitgliedstaaten aus der Europäischen Union übergreifen kann. Somit geht es der EU vor allem um die Friedenssicherung.
Der türkische Präsident Recep Erdogan hat sich als Vermittler engagiert. Wie sehen Sie die Rolle der türkischen Regierung in den Kriegsverflechtungen?
Die Türkei ist wirklich ein sehr interessanter Fall für mich. Es wurde gesagt, dass die Türkei eine Schaukelpolitik im Dreieck zwischen der Europäischen Union, der Ukraine und Russland vollzieht. Man kann auch von strategischer Ambiguität reden, in dem Sinne, dass die Türkei versucht, mit allen involvierten Parteien ihre Beziehungen auf die eine oder andere Art möglichst weiterzuführen und sich auch nicht von einer anderen Partei benachteiligen zu lassen. Mit der Ukraine gibt es enge ökonomische Verbindungen, auch was die Lieferung der für die Ukraine so wichtigen Kampfdrohnen betrifft. Mit der EU sind die Beziehungen, so wie sie sind, sehr schwierig. Auf der anderen Seite will man auch nicht in einen absoluten Konflikt geraten oder sich als Rivale gegenüberstehen. Dann gibt es Russland, wo die Wirtschaftsbeziehungen und auch die Energiebeziehungen wichtig sind. Wenn man berücksichtigt, dass Russland in der Türkei ein Atomkraftwerk mitbaut und russische Firmen dafür zuständig sein werden, dieses Werk auch noch zu betreiben, dann ist das eine Abhängigkeit, die schon fast besorgniserregend ist. Auf der einen Seite bringt das die Türkei in die Position, im Zweifel vermitteln zu können. Auf der anderen Seite erschweren die verschiedenen Interessen und Abhängigkeiten das auch wiederum. Was auf jeden Fall eine Hoffnung ist, ist, dass dieser Krieg die Nato wieder verstärkt auf die Agenda gerufen hat. Die Türkei war eher ein schwieriger Nato-Partner, weil sie mit den S-400 ein russisches Raketenabwehrsystem gekauft hat, welches nicht mit dem Nato-System kompatibel ist. Jetzt besteht die Hoffnung, dass die Türkei auch innerhalb der Nato und mit dem verstärkten Engagement der Nato sich wieder mehr Richtung Westen orientieret. Somit muss man einfach abwarten, inwiefern die Türkei diese Schaukelpolitik so lange benutzen kann, um tatsächlich zu verhandeln.
Für die von Ihnen angesprochene Friedenssicherung benötigt Europa auch eine gemeinsame Verteidigungsstrategie. Wäre etwa eine starke, souveräne EU-Armee eine Alternative zur Nato?
Wir haben noch keine eigene EU-Armee. Aber es gibt die verschiedenen Elemente, die es schon jetzt ermöglichen, dass die EU auch in der Verteidigungspolitik aktiv werden kann. Die EU hat keine so stark ausgeprägte Beistandsklausel wie Artikel 5 der Nato. Aber es gibt Artikel 42,7 im EU-Vertrag, der besagt, dass man einem Staat aus der EU, wenn er angegriffen wird, beistehen und mit verschiedenen Mitteln auch unterstützen soll. Die Europäische Union ist gerade damit beschäftigt, einen strategischen Kompass zu entwickeln, um eine bessere Verteidigung strategisch aufzustellen. Das Stichwort, das in den letzten Jahren geprägt worden ist, ist die strategische Souveränität. Da ist immer die Frage: Wie souverän muss man sein? Das Ziel sollte sein, sich in die multilaterale Weltordnung einzugliedern, aber sich auch eigenständig positionieren zu können und nicht nur abhängig von der Nato oder anderen Organisationen zu sein. Das wird jetzt gerade entwickelt. Und es gibt die „Ständig Strukturierte Zusammenarbeit", die Pesco, die auch ermöglicht, mit verschiedenen Mitgliedstaaten in verschiedene militärische Kooperationen einzusteigen.
Die Ukraine möchte seit Längerem der EU beitreten. Was würde eine beschleunigte Aufnahme konkret bedeuten?
Erst einmal muss man sagen, dass die Ukraine ein Land ist, was wirklich versucht für demokratische Werte einzutreten und sich bis aufs Blut verteidigt, was wirklich auch im Sinne der Europäischen Union und der europäischen Werte ist. Nun gibt es dieses beschleunigte Verfahren für einen Beitritt nicht. Das ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Man muss dies auch im Zusammenhang mit der gesamten Erweiterungspolitik der EU betrachten. Da gibt es die Beitrittsverfahren mit den Staaten des westlichen Balkans, die schon seit Jahren nicht vorankommen. Es gibt das aktuelle eingefrorene Verfahren mit der Türkei. Also was wollen wir mit der Erweiterungspolitik tatsächlich erreichen? Man ist sehr vorsichtig geworden, Länder zu früh aufzunehmen. Wenn man eine Beitrittsperspektive ausspricht, muss man sich sicher sein, dass man sie am Ende vollziehen möchte.
Im Koalitionsvertrag der Berliner Ampelregierung steht, dass ein föderaler europäischer Bundesstaat errichtet werden soll. Ist das ein realistisches Ziel, welches in den nächsten dreieinhalb Jahren erreichbar ist?
Es ist wirklich interessant, dass es so klar im Koalitionsvertrag steht. Der Prozess ist auch im Gange. Es gibt aktuell die Konferenz zur Zukunft Europas, die genau das Ziel hat, eine Bestandsaufnahme zu machen und zu prüfen, wie die Bürger und Bürgerinnen die Europäische Union und wo sie Reformbedarf sehen. Es gibt eine Liste von Vorschlägen, die man im Rahmen der bestehenden Verträge umsetzen kann. Dann gibt es auch eine Reihe von Vorschlägen, für die es Vertragsänderungen braucht. Allerdings wurden Vertragsänderungen bisher nicht klar in Aussicht gestellt, weil man durch das Aufschnüren der Verträge den Integrationsbestand gefährdet gesehen hat.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Reformen in bestimmten Bereichen auch ohne Vertragsänderungen anzugehen. Die Wahlrechtsreform für die nächsten Europawahlen ist ein gutes Beispiel. Eine andere Sache ist, dass man auch überlegen könnte, schon jetzt qualifizierte Mehrheitsentscheidungen verstärkt einzuführen, um Blockadehaltungen auch im Rat aufgrund von nationalen Interessen zu verhindern. Ich glaube, dass wir tatsächlich den föderalen europäischen Bundesstaat brauchen, aber ich sehe es eher so: Der Weg ist das Ziel. Es ist wichtig, dass man sich auf den Weg begibt.
Was bedeutet die Wiederwahl von Emmanuel Macron für Europa?
Am Wahlabend ging ein lautes „Ouf" durch die Europäische Union. Die Wiederwahl Macrons zum französischen Präsidenten bedeutet, dass das pro-europäische Reformpotenzial gewahrt bleibt. Emmanuel Macron wird auf ein souveräneres Europa hindrängen. Für Reformen werden aber auch starke deutsch-französische Beziehungen notwendig sein.
Auch hierfür wurden durch die Wiederwahl Macrons die richtigen Weichen gestellt. Auch wenn die Erleichterung erst einmal groß ist, so ist doch auch zu bedenken, dass die rechtspopulistische Marine Le Pen fast 42 Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Sie wird nun versuchen, dieses Wählerpotenzial für die Parlamentswahlen im Juni zu mobilisieren. Auch der linksextreme Mélenchon versucht seine Wählerbasis für diese Wahlen auszubauen. Sollten diese Kräfte im Parlament eine Mehrheit von Macrons La République en Marche (Partei vom Macron, Anm. d. Red.) verhindern können, dann wird das Regieren für den Präsidenten schwierig und dies wird sich auch auf seine Ambitionen für Europa und die deutsch-französische Zusammenarbeit auswirken. Aber zunächst ist ein Auseinanderbrechen der EU nach der Vorstellungen von Le Pen zu einem Europa der Nationalstaaten verhindert worden.