Weckruf Ukraine-Krieg: Die Weltwirtschaft braucht Verflechtung mit Augenmaß
Jahrzehntelang lebte die deutsche Exportwirtschaft wie im Paradies. Rohstoffe und industrielle Vorprodukte gab es wie Sand am Meer. Die Zentralbanken druckten billiges Geld nach Belieben, die Inflationsrate blieb trotzdem niedrig.
Von der weltweiten Arbeitsteilung im Zuge der Globalisierung profitierte auch das Hochtechnologie-Land Deutschland. Seit 1990 hat sich der Außenhandel mit Waren und Dienstleistungen fast vervierfacht. Das bereinigte Pro-Kopf-Einkommen erhöhte sich im gleichen Zeitraum um rund 50 Prozent.
Doch der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar würgte die globale Produktions-Maschinerie ab. Der Krieg enthüllte ein großes Defizit – vielleicht sogar die Lebenslüge – der Globalisierung: die immense wirtschaftliche Abhängigkeit von Autokratien, die plötzlich über den Hebel politischer Erpressung verfügten. „Ein großer Teil der europäischen Industrie basiert auf billiger Energie aus Russland, auf billiger Arbeitskraft aus China und hoch subventionierten Halbleitern aus Taiwan", betont die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager. „Wir waren nicht naiv, wir waren gierig."
Die Konsequenzen dieser Politik erfährt Deutschland gerade auf einschneidende Weise: Moskau hat die Gaslieferungen drastisch verknappt. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat daher die Alarmstufe im Notfallplan Gas ausgerufen. Der Grünenpolitiker macht derzeit maximale Verrenkungen. Er bittet nicht nur die Scheichs am öl- und gasreichen Persischen Golf um zusätzliche Lieferungen der eigentlich verpönten fossilen Energien. Er macht sich zudem für die Verlängerung der Laufzeiten von Kohlekraftwerken stark. Schmerzhafte Realpolitik.
Wenn die gekappte Energiezufuhr aus Russland deutsche Politiker bereits in den Abgrund blicken lässt: Was passiert, wenn der Fluss von Waren und Dienstleistungen von und nach China unterbrochen wird – etwa infolge eines chinesischen Angriffs auf Taiwan?
Die Volksrepublik ist mit einem Handelsvolumen von 245 Milliarden Euro nicht nur der größte ökonomische Partner Deutschlands. VW verkauft jedes dritte Auto in Fernost. Für Elektro-Fahrzeuge braucht der Wolfsburger Konzern Unmengen an Metallen wie Lithium und Kobalt. 58 Prozent des weltweiten Lithiums und fast zwei Drittel des Kobalts werden in China veredelt. Darüber hinaus liefert die Volksrepublik wichtige Rohstoffe für den Ausbau der Wind- und Solarindustrie.
Das Problem: Peking hat die wirtschaftlichen Bande zum Westen bereits vor dem Ukraine-Krieg deutlich gelockert. Als Reaktion auf den amerikanisch-chinesischen Handelskrieg legte Staatschef Xi Jinping 2020 die Strategie der „zwei Kreisläufe" auf. Ziel: Die Volksrepublik soll nicht mehr vom Ausland abhängig sein, der Rest der Welt aber von ihr.
Die zentrale Idee der „zwei Kreisläufe" besteht darin, dass sich der Binnenkonsum des 1,4 Milliarden Menschen umfassenden Landes auf die heimische Fertigung stützt. Damit soll China vor externen Schocks geschützt werden. Im Außenhandel wird die Unabhängigkeit von Technologie-Importen angestrebt – etwa durch die Herstellung von Halbleitern zu Hause. Die Volksrepublik will nicht mehr nur die Werkbank der Welt sein, wo Endprodukte zusammenmontiert werden, sondern auch der größte Lieferant von Vorprodukten.
Bereits die Corona-Pandemie hat mit dem weltweiten Lieferketten-Chaos deutlich gemacht: Die eng getaktete Just-in-Time-Produktion mit Transportwegen von Shenzhen (China) bis Los Angeles (USA) ist äußerst störungsanfällig. Spätestens der Ukraine-Krieg ist ein Weckruf. „Die Globalisierung, wie wir sie kannten, wir nicht mehr zurückkommen", unterstreicht BASF-Chef Martin Brudermüller.
Das heißt nicht, dass Abschottung oder gar Autarkie die Konsequenz sein müssen. Das gilt schon gar nicht für eine exportlastige Volkswirtschaft wie die deutsche. Es geht vielmehr um Diversifizierung. In Asien – zum Beispiel in Vietnam oder auf den Philippinen – müssen weitere Industriestandorte aufgebaut werden. Lateinamerika und Afrika könnten sich zu neuen Investitionspartnern entwickeln. In einer Ära, in der Autokratien und Diktaturen gewaltsam Grenzen verschieben, ist Risiko-Minimierung das Gebot der Stunde. Es wäre eine Globalisierung mit Augenmaß, in der Abhängigkeiten wohl dosiert sind und nicht nur der billigste Preis zählt.