US-Forscher konnten den Nachweis erbringen, dass Spiritualität und Religion wohl in einem der ältesten Teile des menschlichen Gehirns verankert sind. Somit sind diese eng mit grundlegenden neurobiologischen Funktionen verknüpft.
Da das Gehirn das komplexeste Organ des menschlichen Körpers ist, sind viele seiner Funktionen bis heute noch unbekannt. Laut dem renommierten deutschen Biochemiker Prof. Thomas Christian Südhof, der für seine neurologischen Arbeiten an der Stanford University 2013 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet worden war, verstehen „wir weit weniger als fünf Prozent des Gehirns". Die Neurowissenschaft befinde sich daher „vielleicht auf dem Stand der Krebsforschung vor 20 Jahren". Die Hirnforschung habe bislang noch ein ziemlich rudimentäres Verständnis davon, wie ein menschliches Gehirn tatsächlich funktioniert.
Spezialdisziplin: Neurospiritualität
Da Spiritualität und Religiosität im Leben vieler Menschen eine zentrale Rolle spielen, sind sie seit einigen Jahrzehnten auch ins Blickfeld der Neurowissenschaft gerückt. Diese hat dafür eine Spezialdisziplin entwickelt, die „Neurospiritualität" genannt wird und eine Mischung aus Hirn- und Spiritualitätsforschung ist. Die Neurospiritualität hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu ergründen, ob Spiritualität eine biologische Basis in unserem Körper hat, ob es im menschlichen Gehirn so etwas wie ein spirituelles Zentrum gibt. Öffentlichkeitswirksam wird oft von einem sogenannten Gottes-Gen gesprochen.
Im Fachjournal „Biological Psychiatry" wurde kürzlich eine Studie veröffentlicht, die die Spiritualität in einem bestimmten Gehirnbereich lokalisierte. Die Studie US-amerikanischer Neurowissenschaftler des Brigham and Women’s Hospital in Boston, unter Leitung von Dr. Michael Andrew Ferguson, konnte den Nachweis erbringen, dass Spiritualität und Religion offenbar in einem überraschend alten Teil des menschlichen Gehirns verankert sind, dem sogenannten periaquäduktalen Grau. Es ist auch als „zentrales Höhlengrau" bekannt und liegt im Inneren des oberen Hirnstammes. Die Nervengruppe war bisher nur für Schmerzhemmung, Angst- und Fluchtreaktionen oder positive Emotionen wie bedingungslose Liebe oder altruistisches Verhalten bekannt.
„Wenn Sie mich vor unserer Studie gefragt hätten", so Ferguson, „wo im menschlichen Gehirn die Spiritualität verortet werden kann, hätte ich niemals auf diese Struktur getippt. Denn sie ist sehr alt, und wir tendieren dazu, Spiritualität als etwas Neues anzusehen in der Entwicklung des Menschen. Aber unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Spiritualität und Religion tief in der menschlichen Natur verwurzelt sind." Der Sinn für Spiritualität muss sich sehr früh in der menschlichen Entwicklungsgeschichte ausgeprägt haben. „Wir waren erstaunt", so Ferguson, „dass dieser Gehirnschaltkreis für Spiritualität in einer der evolutionär am besten erhaltenen Strukturen des Gehirns zentriert ist."
Für ihre Studie hatten Dr. Ferguson und seine Kollegen 88 Patienten, die sich einer Operation zur Entfernung eines Hirntumors unterziehen mussten, einer Vorher-Nachher-Befragung bezüglich ihrer Einstellung zu religiösen und spirituellen Gefühlen unterzogen. Nach der Hirntumor-OP zeigte sich bei 30 Patienten eine Abnahme des zuvor selbstberichteten Spiritualitäts-Empfindens, bei 29 war eine Zunahme zu verzeichnen, bei den restlichen 29 Probanden war keine Veränderung eingetreten. Wobei sich herausstellte, dass die Zu- oder Abnahme der Spiritualität in einem direkten Zusammenhang mit einer durch die Operation bedingten Verletzung des periaquäduktalen Graus stand, wobei es offenbar im zentralen Höhlengrau die Spiritualität hemmende und fördernde Bereiche geben muss, während operative Eingriffe in anderen Hirnregionen offenbar keinen Einfluss auf das spirituelle Empfinden der Patienten hatten.
Das konnten die Forscher mithilfe der Methodik der sogenannten Läsionsnetzwerkkartierung eindeutig feststellen, bei der komplexe menschliche Verhaltensweisen bestimmten Hirnarealen mittels über das ganze Organ verteilter Läsionsstellen zugeordnet werden können. Bestätigt wurde das Forschungsergebnis anschließend bei der Befragung von 105 Veteranen des Vietnamkrieges, bei denen infolge einer Hirnoperation das zentrale Höhlengrau in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Veteranen hatten ebenfalls von einer Veränderung in ihrem spirituellen Empfinden berichten können. „Religion und Spiritualität haben es offenbar verstanden", so Dr. Ferguson, „den Code zu knacken und ganz tief in unser Nervensystem vorzudringen. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Spiritualität und Religiosität in fundamentalen neurobiologischen Prozessen verwurzelt sind – sie sind tief in unsere neurologische Matrix eingewoben."
In neurobiologischen Prozessen verwurzelt
Durch das Aufspüren der Spiritualität im menschlichen Gehirn möchten die US-Wissenschaftler auch einen Beitrag zu besseren Heilungsprozessen bei diversen Hirnschädigungen leisten. Weil aus ihrer Sicht religiöses Heil und medizinische Heilung nicht nur in früheren Kulturen eng verwandt waren. „Man muss sich bewusst machen: In der Geschichte der Menschheit gingen Heilung und Spiritualität immer Hand in Hand", so Dr. Ferguson gegenüber dem Deutschlandfunk. „Erst in der Moderne haben wir sie voneinander getrennt – aber wir sind die Ausnahme. Denn Heilung und Spiritualität passen offenbar von Natur aus gut zusammen. Und diese Verbindung wollen wir wiederentdecken – mithilfe der Wissenschaft." Ein bekanntes Beispiel dafür seien die Achtsamkeitsübungen, die inzwischen längst als bewährte Therapie bei Angststörungen, Suchterkrankungen oder Depressionen eingesetzt werden.
Aber auch wenn alle Menschen über die gleichen Hirnareale verfügen, so bedeutet es laut Dr. Ferguson natürlich keinesfalls, dass auch alle Erdenbürger religiös sein müssen. „Manche Menschen werden durch Musik kaum angesprochen", so Dr. Ferguson gegenüber dem Deutschlandfunk, „andere hingegen sind hochmusikalisch. Und so ist das auch bei Spiritualität: Manche Menschen berührt sie einfach nicht." Auch dem konträren Zusammenspiel von Rationalität und Spiritualität muss laut Dr. Ferguson im menschlichen Gehirn eine wichtige Rolle beigemessen werden. Es gebe zwischen dem Netzwerk für Rationalität und Logik und dem periaquäduktalen Grau ein Wechselspiel, gewissermaßen eine Art von Balance. Wenn beispielsweise die Spiritualität bei einem Menschen abnehmen sollte, habe das laut Dr. Ferguson wahrscheinlich zur Folge, „dass ein Mensch in dem Fall neu stärker rational orientiert durch die Welt geht und seine Erfahrungen weniger spirituell oder intuitiv deutet. Aus neurowissenschaftlicher Sicht kann man sagen, dass Spiritualität und Rationalität in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen."