Seit 27 Jahren gewinnt Angela Merkel ihren Wahlkreis immer direkt. Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren vertrauten ihr auf Rügen und rund um Greifswald 56 Prozent der Wähler – beinahe bayerische Verhältnisse. Doch diesmal könnte die Zustimmung bröckeln. Bei der Landtagswahl 2016 ist die Landes-CDU in Mecklenburg und Vorpommern regelrecht unter die Räder gekommen.
b in Stralsund, Grimmen oder Binz – auf die Schönheit der Landschaft und der kleinen Städte angesprochen, bekommt man im Café oder Restaurant immer wieder zu hören: „Ja, wir arbeiten dort, wo andere Urlaub machen.“ Was so viel bedeutet wie: „Unsere Arbeit ist eigentlich schon Urlaub.“ Für die Menschen in Ostvorpommern ist eine solche Reaktion fast schon extrovertiert und als sehr freundlich zu deuten. Hier an der Ostsee neigt man eher zu Zwei-Wort-Sätzen, doch nach über 20 Jahren Touristenansturm spricht man nun auch hier mehr.
Denn es ist der Tourismus, der hier alles am Laufen hält. Vom Fischfang kann niemand mehr leben und bis auf drei sind die Werften schon lange nach Asien verschifft. Als Angela Merkel am 2. Dezember 1990 zum ersten Mal diesen Wahlkreis direkt holte, stand dieser Landstrich vor den größten Veränderungen in seiner Geschichte.
Darß, Hiddensee, Kap Arkona, Bergen oder Greifswalder Bodden, das sind die Namen, bei denen jeder in Deutschland ins Schwärmen kommt. Die scheinbar unendliche Weite der Ostsee. Wunderschöne Alleen und bunt blühende Felder bis zum Horizont – das ist der Wahlkreis 15, Vorpommern-Rügen-Greifswald I. Rund 3.500 Quadratkilometer groß und fast 1.000 Quadratkilometer größer als das Saarland. Wohlgemerkt, es handelt sich um einen Wahlkreis, das Saarland hat vier und ist ein ganzes Bundesland.
Für Wahlkämpfer ist dieser Wahlkreis eine echte Herausforderung. Denn in diesem riesigen Gebiet zwischen Ostsee und polnischer Grenze leben gerade mal 250.000 Menschen. Das heißt für die Direktkandidaten, dass sie in der Woche auf 1.000 Kilometer und mehr kommen und dann noch nicht mal zehn Prozent ihrer potenziellen Wähler erreicht haben.
Obendrein bedeutet Wahlkreis 15: Jeder Direktkandidat, der hier ohne gesicherten Listenplatz antritt, kann sich eigentlich schon darauf einstellen zu verlieren. Denn seit 1990 gewinnt hier die Kandidatin der CDU, Dr. Angela Merkel, die Wahl. Nach fünf Siegen war sie dann Bundeskanzlerin. Bei der letzten Bundestagswahl fuhr Merkel das beste Ergebnis ihrer Karriere ein, 56,2 Prozent, weit abgeschlagen hinter ihr die Kandidatin der Linken mit 19, dann die der SPD mit 14 Prozent. Im Grunde muss sich die Kanzlerin um ihren Wahlkreis also keine Sorgen machen.
Rückblende: 4. September 2016, Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Um kurz nach 18 Uhr soll auch Angela Merkel ungläubig dreingeschaut haben, berichten Vertraute. Die AfD hatte sich mit mehr als 20 Prozent auf Platz zwei hinter der SPD vorgeschoben, die Landes-CDU musste sich mit glatten 19 Prozent auf Platz drei einreihen. Obendrein knöpfte die AfD den Christdemokraten auch noch drei Direktmandate ab, unter anderem in Merkels politischer Heimat.
Der CDU-Absturz hatte mehrere Gründe. Zum einen galt der damalige CDU-Landeschef Lorenz Caffier als äußerst schwach, konnte sich als Innenminister nicht richtig positionieren. Dann entschied obendrein das Thema Flüchtlinge auch diesen Landtagswahlkampf, obwohl Mecklenburg-Vorpommern die komplette Wucht des Ansturms gar nicht mitbekam. CDU-Spitzenkandidat Caffier stellte sich demonstrativ hinter die Kanzlerin und die Willkommenskultur, was der AfD sehr zupasskam.
Ein AfD-Mann tritt gegen Merkel an
Nun, ein Jahr später, will der AfD-Fraktionschef im Schweriner Landtag, Leif-Erik Holm, es wissen und tritt im Bundestagswahlkreis 15 direkt gegen die Kanzlerin an. Holm gilt innerhalb der AfD als gemäßigter Realo und hat so seine liebe Not, seine Truppen im Landtag zusammenzuhalten – dort sind auch NPD-Sympathisanten innerhalb der AfD vertreten.
Der ehemalige Moderator des landesweiten Privatradios hat dabei einen Vorteil gegenüber den anderen Mitbewerbern im Merkel-Wahlkreis: Die Leute kennen seinen Namen vom Hören, was für die ostpommerschen Weiten schon mal nicht schlecht ist. Laut Umfragen könnte er zumindest Kerstin Kassner, die Kandidatin der Linken, von Platz zwei verdrängen. Das Übrige sollen dann vor allem Wahlplakate und persönliche Anwesenheit besorgen. Das mit den Plakaten macht die CDU auch. Doch die Anwesenheit der Kandidatin wird mit Hubschraubern der Bundespolizei organisiert. Denn die wahlkämpfende Kanzlerin muss ja in Berlin auch noch regieren.
Leif-Erik Holm findet das mit den Hubschraubern ein bisschen ungerecht. „Damit verschafft sich die Kanzlerin einen Vorteil, den alle anderen in diesem riesigen Wahlkreis nicht haben“, gibt er zu bedenken und holt dann zum persönlichen Gegenschlag aus. In seinem Wahlkampf reitet er auf der Herkunft der Kanzlerin herum. „Die Zeit von Frau Merkel ist vorbei. Wir wollen sie nach Hause in die Uckermark schicken“, skandiert der 46-jährige Herausforderer bei seinen Wahlkampfauftritten. Die Uckermark liegt in Brandenburg.
Damit sind wir dann mitten in der Lebensgeschichte der Bundeskanzlerin. Geboren wurde Angela Merkel 1954 in Hamburg. Ihr Vater wurde als Pfarrer Ende der 50er-Jahre ins brandenburgische Templin versetzt. Dort hat Merkel immer noch eine Datsche. Heute wohnt sie in Berlin-Mitte in der Nähe des Hackeschen Marktes. Dass sie ihre politische Heimat im Frühsommer 1990 in Ost-Vorpommern gefunden hat, ist reiner Zufall. Der damalige brandenburgische CDU-Chef und letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel konnte die Physikerin aus Templin nicht leiden. „Unter ihm hätte ich nie einen Wahlkreis bekommen“, berichtet Merkel in ihrem Buch „Mein Weg“.
Doch da bot sich die Chance in Ost-Vorpommern. Der dortige CDU-Chef Günther Krause schlug ihr den Wahlkreis Rügen-Greifswald vor. Im wahrsten Sinne des Wortes bei Nacht und Nebel in der ehemaligen DDR-Offiziersschule im Ostseebad Prora konnte sie auf einem CDU-Kreisparteitag in einer Stichwahl die Direktkandidatur für sich entscheiden. Ein Zufall, der eine große Karriere ermöglicht hat, denn mit der brandenburgischen CDU unter Diestel wäre Merkel eher vor dem Parteischiedsgericht als im Bonner Bundestag gelandet. Nun will die Kanzlerin zum achten Mal ihren Wahlkreis 15 in Vorpommern-Rügen-Greifswald I gewinnen.