Das Aostatal ist bestens eingebettet: Es grenzt nördlich an die Schweiz, westlich an Frankreich und südlich und östlich an das Piemont. In der kleinsten Region Italiens hat man die Wahl zwischen 300 Wander- und Trekkingrouten.
Da, wo der Stiefelschaft locker über dem Knie sitzt, schmiegt sich Aosta als knubbeliger Fleck an den stivale italiano. Umringt wird die Ganzjahres-Wander- und Skiregion Aostatal gleich von vier stattlichen Bodyguards. Und die können sich wahrlich sehen lassen. Vom Monte Rosa im Wallis und dem Gran Paradiso sind der Monte Cervino – zu Deutsch Matterhorn – und der Monte Bianco wohl die bekanntesten Gesteinsriesen. Letzterer ist uns als Mont Blanc und immerhin größter Berg Europas bestens bekannt. Die erst voriges Jahr eröffnete Seilbahn Skyway ist der direkteste Weg zum Gipfelglück und erinnert mit futuristischen Gondeln an einen James-Bond-Film. In einer sich um die eigene Achse drehenden Glaskugel schwebt man im 20-Minuten-Takt auf das 3.466 Meter hoch gelegene Panorama-Plateau Punta Helbronner mit einem atemberaubenden 360-Grad-Blick über das im Zickzack umstanzte Mer de Glace. Naturgewaltig, monumental erhaben – Höhentaumel pur. Begegnet man in der Gondel oder zu Fuß einem Einheimischen, sollte man lieber nicht vom Mont Blanc sprechen. Obwohl das Valle d’Aosta oder auch Vallée d’Aoste eine zweisprachige Region ist, reagieren die Valdostaner leicht sauer ob der allzu verbreiteten französischen Betitelung ihres Monte Bianco, denn den Gipfel beanspruchen die Italiener für sich.
Weite und Ursprünglichkeit
Für die Wanderungen muss es kein abgehobenes Profi-Equipment sein, aber atmungsaktive Bekleidung mit Trekkingstöcken (Carbon) und Sonnenschutz sollten nicht fehlen. Es geht moderat bis stramm bergauf. Herzhafte Verpflegungs-Stop-and-gos sind inklusive. 300 Wanderrouten stehen zur Wahl und tendenziell sollte man schon ein Gut-zu-Fuß-Mensch sein. Zahlreiche kurze Wege für Jedermann laden zu leichten Tagestouren ein.
Die mit E (Exkursionista/mittelschwer) und T (Tourista/leicht) gekennzeichneten Wege sind zwar ansteigend und nicht ohne, aber für jeden halbwegs gut Konditionierten erwanderbar. Zahlreiche Cols (Gebirgspässe), Saumpfade und Felsbrücken verbinden die 14 Seitentäler. Starten kann man die Rundtouren fast von jedem Dorf. Über die sogenannten fenêtres (Fenster) betritt man die Täler wie durch Vorhänge aus dichtem Gras, die zu immer neuen Theaterbühnen eines Naturschauspiels führen.
Manche jadegrünen Bergseen, Almen und urige Berghütten sind nur zu Fuß erreichbar. Beim Wegformat Doppio E (EExperto) spricht man von Trecking auf höherem Niveau. Auf den stramm ansteigenden und diagonal zu erwandernden Pässen schreiten drahtige Bergführer mit lässigem Schritt voran. Hört man sie „Poudzo“ sagen, weiß man, Daumen hoch – alles gut, weitergehen. Vorsicht bei Geröll oder letzten Schneeresten. Mit dem Rundwanderweg der Riesen in sieben Etappen durchquert man das gesamte Aosta-Tal. Die 300 Kilometer lange Alta Vita offenbart die Weite und Ursprünglichkeit der Landschaft.
Zentral und im Süden angrenzend am Piemont liegt der Parco Nazionale del Gran Paradiso. Er wurde bereits in den 20er-Jahren gegründet und ist damit der älteste Nationalpark Italiens. Um den bilderbuchreifen Matterhorn-Wanderweg La Balconata del Cervino bis nach Cheneil zu erreichen, startet man soft in Chamois. Tipp: Im Winter eine deutlich kostengünstigere Alternative zu den Skipisten rund um Zermatt.
Die bequeme Version: mit der Seilbahn hinaufbaumeln, sich am Lago di Lod von Wirtin Bruna Ducly in der „Bar La Baita“ mit Kastaniengnocchi stärken, sich beim märchen-kompatiblem Bergseeblick die Augen reiben oder gleich wadenstärkend bis nach Champlève Valtournenche laufen (circa drei Stunden).
Familiengeführter Bio-Hof
Der familiengeführte Bio-Hof „La Pera Doussa“ wartet nicht nur mit sieben Zimmern, sieben Pferden, 50 Kühen, einem liebvollen Minimuseum und einer gemütlichen Gaststube. „Alles hat hier seinen natürlichen Kreislauf. Das fängt bei der Heuproduktion für unsere Tiere an und hört bei dem vom nahen Wildbach generierten Hydrostrom auf“, so Luna. Die 20-jährige Tochter der Familie Giovanni führt Gäste ebenso mädchenhaft wie resolut über den Hof. Im Keller schlummert das aostanisch-kulinarische Highlight der Region. Der DOP-Fontina-Käse ist ein fetthaltiger Sommerkäse mit weichem Laib. Die Rohmilch, aus der er hergestellt wird, ist quasi noch warm. Burgunda, der rot-schwarz und kastanienbraunen Aostakuh, wird sogar einmal im Jahr ein Fest gewidmet. (www.fontina-dop.it).
Beliebt ist auch das Fontanella (Fondue). Der halbfette Tomma ist die limitierte Winterausgabe und wird nur in kleiner Auflage produziert. Als typische Stärkung auf dem Tisch: der mit Bergkräutern gewürzte di Bosse-Schinken und der Motzetta, ein luftgetrocknetes, gepökeltes Fleisch von Gämse, Ochse oder wildem Schwein – hauchdünn geschnitten.
Wer sich so gestärkt nun eine längere Strecke zutraut, der erpilgere sich die Tour du Cervin in Richtung Valpelline. Die kleine Kapelle am Lago di Cignana wirkt wie eine von feinen Wasserfall-Fäden gehaltene und in grünes Geschenkpapier verpackte Steinpraline. Das geschmolzene Eiswasser bildet dort bei genauem Hinsehen kleine herzförmige Gletscherseen. Über die Fenêtre de Cignana und den Col de Valcornière (Achtung: Trekking-Niveau) geht es stramm bergauf bis zum Rifugio Prarayer am Lago di Place Mouline in der Valpelline. Oder direkt über Bionaz, Gignod, Roisan, Valpelline und Oyace. Vorbei an Erikagewächsen, Zwergginster und Gelbanemonen, Trollblume und Arnika heißt es Augen und Ohren aufmachen, sonst läuft man vor lauter Konzentration auf den Weg noch an einem stambecchi (Steinbock) vorbei, der statuenhaft und stoisch auf Felsvorsprüngen thront oder im Reigen seiner Artgenossen gleich neben den flinken Gämsen die saftigen Bergkräuter mampft. Mannshohe Steinmännchen auf den Zwischenplateaus markieren die Trink-, Vesper- und Verschnauf-Zwischenstopps. Die urige Übernachtung mit dem blauer-als-blauen-Seeblick auf den Lago Place Moulin in der Berghütte Rifugio Prarayer in Bionaz ist sehr empfehlenswert. Karierte Herzchenstoffe und viel Holz vermitteln Bilderbuch-Feeling. Stärkung à la carte: Gämsen-Gulasch mit Polenta. Ein Gläschen Génépi, ein Kräuterschnäpschen aus Artemisia, einer Gletscher-Edelraute, die nur auf über 2.000 Metern wächst, ist verdauungsfördernd.
Esel bringen die Verpflegung
Nach der Seeumrundung führt ein herrlicher Weg am Bach durch das Tal Combe zur Alm Grand Chamen. Hier begegnet man – wenn man Glück hat – dem Junghirten Yves, der mit Hund Ralf und Herde durch kniehohe Blumenwiesen streift. Immer schön langsam, avanti avanti gibt’s nicht. „Vai asino meno ma lentamente“, so treibt Daniele Pieiller seine zwei Esel an, die vieles, was in seiner Pension „Alpe Rebelle“ serviert wird, den Berg hinauftragen. Auch Besucher können mit diesem Transportmittel einen entschleunigten Ausritt genießen. Daniele ist Mitinitiator des Natura VALP, einem Verein, der sich für nachhaltige, traditionsbewusste Landwirtschaft einsetzt. Ein archetypischer Valdostaner, denn die beschreiben sich selbst zu Recht als gastfreundlich, fleißig und: Sie machen sich die Natur auf allen Ebenen respektvoll zunutze.