Wählen gehen ist nicht für jeden Bürger eine Selbstverständlichkeit. „Alle wollen ,Diversity‘“, sagt Eileen Moritz, Behindertenbeauftragte des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf. Eher wenige dächten allerdings daran, dass auch Behinderungen zu dieser Vielfalt gehören. Nicht nur, wenn es um Wählerstimmen geht.
Frau Moritz, wählen gehen sollte allen möglich sein – woran hapert es denn in der Praxis vor Ort?
Wir denken tatsächlich zuerst immer an die, die sogenannte körperliche oder Mobilitätseinschränkungen haben. Und es gibt inzwischen viele barrierefreie Lokale, die darauf eingestellt sind. Wir haben im Bezirk Steglitz-Zehlendorf um die 127 Wahllokale, und davon sind 74 für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen barrierefrei, also ohne Hilfe nutzbar. Aber wir müssen eigentlich bei Barrierefreiheit an mehr denken als an mobilitätseinschränkende Behinderungen. Zum Beispiel auch an Sinnesbehinderungen – gibt es Leitsysteme? Sind die Informationen so aufbereitet, dass blinde Menschen sie wahrnehmen können? Oder: Gibt es Informationen in Leichter Sprache? Sind die Wahlhelfer auch darauf eingestellt, mit diesen verschiedenen Situationen umzugehen, und die Menschen, die da mit unterschiedlichen Bedürfnissen kommen, zu berücksichtigen?
Und die Verantwortung für diese Barrierefreiheit liegt wo?
Naja, die Umsetzung geschieht in der Kommune, die die Wahllokale wie etwa hier im Bezirk organisiert. Ansonsten ist es natürlich eine Bundesaufgabe.
Eine für den Bundeswahlleiter, der das sicherstellen muss?
Genau. Und natürlich die einzelnen Parteien. Die Informationsweitergabe, also wenn es Informationen auch in Leichter Sprache geben soll – das liegt in der Verantwortung der Parteien: Wie weit die zum Beispiel ihre Wahlveranstaltungen auch in Leichte Sprache übersetzen oder wie weit sie Gebärdensprachdolmetscher haben. Oder wie ihre Wahlprogramme auch übersetzt werden, damit sie barrierefrei zugänglich sind. Sprich, dass sie von Computern gelesen werden können, die blinde Menschen benutzen.
Von wie vielen Wählern sprechen wir denn eigentlich? Etwa am Beispiel Ihres Bezirks?
Es leben 300.000 Menschen im Bezirk Steglitz-Zehlendorf – praktisch genau die gleiche Anzahl von Menschen, nämlich 300.000, leben in ganz Berlin mit einer Behinderung. Das ist eine große Summe. 53.279 von ihnen leben in Steglitz-Zehlendorf. Sozusagen jeder Sechste hier hat eine anerkannte Schwerbehinderung. Natürlich sind das nicht alles Wähler – weil da Kinder auch mit berücksichtigt sind. Aber das ist durchaus eine Größenordnung, die relevant ist.
Gibt es Belege dafür, dass die Wahlbeteiligung bei Menschen mit Behinderung im Durchschnitt niedriger liegt?
Ja, die gibt es! Die Wahlbeteiligung bei Menschen mit Behinderung ist unterdurchschnittlich – was eben tatsächlich auch mit der Nicht-Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Bedarfe zu tun hat.
Was unternimmt Ihr Bezirk, um diesen Wählern den Prozess zu erleichtern?
Also, der Wahlleiter in Steglitz-Zehlendorf ist natürlich angehalten, für weitestgehend barrierefreie Wahllokale zu sorgen. Das ist mal der erste Schritt. Was auch über den Bezirk organisiert wird, sind Wahlschablonen für Menschen mit Sehbehinderung. Ich finde, was fehlt, wäre Wahlhelfer zu schulen. Oder sich darum zu bemühen, dass Wahlhelfer vor Ort sind, die auch selber mit einer Beeinträchtigung leben, um in den Wahllokalen eine Art Normalität herzustellen. Wenn ich zum Beispiel in meinem auftauche, ist das immer ein Riesenereignis – wo ich mir dann denke ‚Hallo? Ich komm einfach ganz regulär wählen‘. Und diese Aufregung, wenn da jemand mit einer Beeinträchtigung kommt, zu vermeiden, oder mehr Selbstverständlichkeit zu erreichen, das könnte echt über Wahlhelfer geschehen. So eine Sensibilisierung und so ein gegenseitiges Kennenlernen kann auch im Wahlprozess stattfinden. Das, finde ich, könnte man auf lokaler Ebene noch verstärken.
Könnte man denn nicht einrichten, dass Menschen mit Beeinträchtigung zum Beispiel automatisch immer die Briefwahlunterlagen erhalten oder ein barrierefreies Wahllokal zugewiesen bekommen?
Ich vermute, das wird aufgrund des Datenschutzes nicht möglich sein – was aber schon passiert und stattfindet, ist, dass die Wähler, die Mitglied beim ABSV (Allgemeinen Blinden- und Sehbehinderten-Verband) sind, ihre Wahlschablonen automatisch zugesendet bekommen. Da gibt es eine Kooperation mit den Wahlämtern. Aber natürlich – und das macht ja auch Sinn – ist nicht jeder Mensch mit seiner Beeinträchtigung als solcher im Wählerverzeichnis markiert.
„Behinderte Menschen an Politik beteiligen“
Sie laden zu Diskussionsrunden ein, die in einfacher Sprache geführt werden. Wieso ist ein einfaches Deutsch so wichtig für den Wahlprozess?
Weil es darum geht, Menschen zu informieren und zu beteiligen. Es geht ums Wählen, aber es geht auch darum, dass das Thema Behinderung gesellschaftlich relevanter wird. Es ist ja im Grunde ein gegenseitiger Lernprozess: Die Direktkandidaten, die auf dem Podium sitzen, erleben eine Veranstaltung in leichter Sprache, um eine Art Vorbild zu haben, wie so etwas ablaufen könnte. Sie erleben, dass selbstverständlich Gebärdensprache angeboten wird. Und dass es ja auch nicht darum geht, dass Wähler ihr Kreuz machen, sondern, dass sie überhaupt an politischen Prozessen beteiligt werden. Dafür müssen politische Prozesse überhaupt verständlich und nachvollziehbar sein.
Und im Gegenzug?
Die Wähler, die jetzt mit kognitiven Beeinträchtigungen kommen, möchten die leichte oder einfache Sprache haben, um etwas über Politik zu lernen. Aber ich denke, auch die Politiker werden nachher mehr Verständnis für deren Bedarf oder auch deren Themen haben. Weil Politik auch bedeutet, Themen zu berücksichtigen. Und in dieser Gesellschaft ist das Thema Behinderung vollkommen an den Rand gedrängt. Alle wollen zum Beispiel Diversity und Vielfalt leben und niemand berücksichtigt, dass Behinderung auch eine Diversity-Dimension ist.
Was wünschen Sie sich mehr – eher den konkreten Lerneffekt seitens der Politik oder lieber konkrete Zusagen vonseiten der Politik?
Na ja, ich finde ja immer Zusagen von Politikern vor einer Wahl … nicht so belastbar. Ich glaube, es geht mir eher um die genannten Lernprozesse. Es geht mir vor allem auch darum, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sich einfach mehr beteiligen, dass sie sich mehr engagieren, dass die ihre Forderungen laut formulieren – und dafür geben wir ja Raum.