Über Sterbehilfe wird häufig kontrovers diskutiert. Dabei wäre es auch wichtig, sich intensiv mit dem Thema Überversorgung von Patienten am Ende ihres Lebens zu befassen. Davon sind nämlich wesentlich mehr Menschen betroffen, und dies stellt ein viel größeres Problem dar.
Bis zum letzten Atemzug wird operiert, katheterisiert, infundiert, bestrahlt, chemotherapiert, geröntgt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt. Das Milliardengeschäft mit der Übertherapie floriert", prangert der renommierte Wittener Palliativmediziner Dr. Matthias Thöms die mehr als bedenkliche Routine in deutschen Kliniken und Altenheimen an. Schon sein Bestseller „Patient ohne Verfügung – Das Geschäft mit dem Lebensende" kritisierte diese möglichst schnellstens zu behebende Fehlentwicklung im Gesundheitssystem. Ins gleiche kritische Horn stößt schon seit Jahren der Bonner Palliativmediziner Prof. Lukas Radbruch, der in einer von der Bertelsmann Stiftung herausgegebenen Studie „Überversorgung kurativ – Unterversorgung palliativ? Analyse ausgewählter Behandlungen am Lebensende" aus dem Jahr 2015 gemeinsam mit seinem Kollegen Frank Andersohn von der Berliner Charité nachweisen konnte, dass zu viele Menschen hierzulande an ihrem Lebensende medizinisch völlig unnötige Behandlungen über sich ergehen lassen müssen.
Medizinisch unnötige Behandlungen
Es ist noch gar nicht so lange her, da war unter Angehörigen von sehr alten oder todkranken Menschen die Befürchtung weit verbreitet, dass ihren Verwandten am Lebensende im Krankenhaus oder im Pflegeheim nicht die erforderliche medizinische Behandlung zuteil werden könnte. Gemäß dem Motto: Der Aufwand lohnt sich ja ohnehin nicht mehr. Im Zusammenhang mit der Reform der Sterbehilfe wurde Ende 2015 sogar von einer „Ökonomisierung des Sterbens" gesprochen. Womit auf den wunden Punkt hingewiesen wurde, dass medizinische Behandlungen in der letzten Lebensphase womöglich stillschweigend eingeschränkt werden könnten.
„Nun macht sich jedoch ein ganz anderes Unbehagen breit: die Vermutung, dass kurz vor dem Tod nicht zu wenig, sondern zu viel von den Ärzten unternommen wird", hieß es schon Anfang Februar 2017 in einem Hintergrundbeitrag der „Zeit" zum Thema Überversorgung. „Es spricht sich herum, dass nicht nur diejenigen Geschäfte machen, die Leben verkürzen, sondern vor allem auch diejenigen, die es um jeden Preis verlängern. Die medizinische Überversorgung von Menschen am Lebensende ist ein Milliardenmarkt – und Routine in deutschen Kliniken und Altenheimen."
Es ist längst kein Einzelfall mehr, dass Krebspatienten täglich extrem teure Präparate bekommen, die ihnen nicht helfen. Dass Ärzte Operationen durchführen, die das Siechtum nur unnötig verlängern. Dass Todkranke bestrahlt, beatmet oder künstlich ernährt werden, ohne dass sich dadurch ihre Lebensqualität verbessert. „In Krankenhäusern sorgt steigender Kostendruck dafür, dass Ärzte und Klinikmanager verzweifelt nach Einnahmequellen suchen", erklärte schon die „Zeit". „Früher zahlte sich eine lange Liegedauer aus, heute werden die Krankenhäuser nach Diagnosen und Operationen bezahlt, und das bedeutet eben auch: Gerade Sterbenskranke können viel Geld bringen. Auch für Pflegeheime lohnen sich Patienten, die sich kaum noch bewegen können, aber an lebenserhaltenden Geräten hängen."
Auch Matthias Thöns weiß um die Problematik, dass Ärzte, Kliniken und Pflegedienste die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu ihren Gunsten gezielt ausschöpfen: „Das Ziel der Medizin, menschliches Leiden zu heilen oder zumindest zu lindern, wird in der Schlussphase des Lebens oft ins Gegenteil verkehrt. Menschen werden mit sündhaft teuren, äußerst belastenden Therapien gequält, oft sogar gegen ihren Willen."
Noch immer wird heute daher zu vielen Menschen der selbstbestimmte und ruhige Tod in möglichst vertrauter Umgebung vorenthalten. Fast jeder zweite ältere Mensch in Deutschland stirbt in einer Klinik, obwohl eigentlich laut dem aktuellen „Faktencheck Gesundheit" der Bertelsmann Stiftung nur sechs Prozent der Deutschen ihre letzte Lebensphase im Krankenhaus verbringen möchten. Doch so lange die ambulante Palliativ- und Hospizversorgung hierzulande nicht so weit ausgebaut ist, dass sie von jedermann in Anspruch genommen werden kann, wird das wohl so bleiben. 2014 hatten lediglich knapp 30 Prozent der Verstorbenen eine Palliativbehandlung bekommen. Ein eindeutiges Indiz für eine diesbezügliche Unterversorgung. „Fast 90 Prozent aller Menschen brauchen am Lebensende eine palliative Begleitung", so Lukas Radbruch.
Patientenverfügung wenig praxistauglich
Ein boomendes Geschäftsmodell in der Intensivpflege sind derzeit die sogenannten Beatmungs-Wohngemeinschaften, in denen in der Regel acht oder mehr Patienten zusammenleben und die vom ARD-Magazin „Monitor" schon einmal kritisch unter die Lupe genommen wurden. Die Mietkosten müssen die Patienten selbst aufbringen, die Maximalpflege rund um die Uhr wird hingegen zum Großteil von der Krankenkasse übernommen. Die Pflegeunternehmen reißen sich um jeden dieser WG-Patienten, schließlich erhalten sie pro Beatmungs-Patient 20.000 bis 25.000 Euro im Monat. Im Krankenhaus könnten es die Kassen wesentlich billiger haben, denn für die stationäre Betreuung gibt’s pro Monat und Beatmungspatient lediglich 5.000 bis 6.000 Euro, wovon zudem noch die Patienten die Hälfte der Kosten als Eigenanteil beisteuern müssen.
Kein Wunder, dass sich Patienten und Angehörige allein schon aus finanziellen Überlegungen meist für die WGs entscheiden. Deren Zahl ist in kürzester Zeit rapide in die Höhe geschossen, Experten schätzen, dass derzeit schon rund 15.000 Patienten ambulant beatmet werden. „Die Beatmungspatienten sind die Joker", sagt Dr. Thomas Sitte, der Vorsitzende der Deutschen Palliativstiftung. „Die allerattraktivsten Patienten, wenn man abrechnen möchte. 15.000 Patienten mal 20.000 Euro für die Pflege. Da kommt noch was dazu, für den Arzt, für Ernährung und so weiter. Sagen wir 15.000 mal 25.000 – das macht 300 Millionen Euro. Eine ganze Menge Holz. Aber nicht pro Jahr, pro Monat! Das sind dann mindestens drei, vier, vielleicht sogar fünf Milliarden Euro pro Jahr."
Das Allheilmittel Patientenverfügung scheint wenig praxistauglich, um die Übertherapie zu unterbinden. Zunächst einmal hat nur jeder dritte Deutsche ein solches Dokument verfasst. Teils ist es nutzlos, weil zu missverständlich oder vage formuliert (auf der sicheren Seite ist man mit dem Formular des Bundesjustizministeriums), teils wird es einfach nicht beachtet, wie „Monitor" oder auch Matthias Thöns mit Testanfragen für fiktive Patienten bei Pflegediensten belegen konnten. Thöns: „Meine Erfahrung mit Patientenverfügungen bei größeren Eingriffen ist, dass sie oft nicht beachtet werden. Das heißt, Kollegen beachten sie gar nicht oder aber interpretieren sie so lange um, bis es für sie passend ist."
Dabei haben etliche Studien schon bewiesen, dass Palliativmedizin und Hospize die Leiden der Patienten nicht nur erheblich verringern, sondern zuweilen das Leben sogar verlängern können. In vielen Fällen dürfte daher das liebevolle Unterlassen medizinischer Hilfe die bessere Lösung für den Sterbenden sein.