Die deutschen Skispringer gehören nach der erfolgreichen WM im vergangenen Frühjahr für die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang zu den heißen Medaillenkandidaten. Allerdings müssen sich die „Adler" aufgrund des Ausfalls ihres wieder verletzten Ex-Weltmeisters Severin Freund erst neu sortieren.
Der Anflug auf Pyeongchang beginnt für die deutschen Adler in Polen. Schon beim Weltcup-Auftakt der Skispringer am dritten November-Wochenende in Wisla beginnt für die Mannen von Bundestrainer Werner Schuster der Countdown für die Olympischen Winterspiele in Südkorea.
Nach den überaus erfolgreichen Weltmeisterschaften im vergangenen Frühjahr im finnischen Lahti zählen Schusters Springer in der Szene zu den aussichtsreichsten Anwärtern auf die begehrten Podestplätze. Außer von den Weltcup-Springen erhofft sich der Coach natürlich besonders wieder einmal von der traditionellen Vierschanzen-Tournee rund um den Jahreswechsel wichtige Aufschlüsse für seine Olympia-Nominierung.
In Schusters Team werden die Karten in diesen Wochen allerdings neu gemischt. Denn Severin Freund als jahrelange Galionsfigur und populärer Vorspringer fällt für die gesamte Saison aus. Der Ex-Weltmeister erlitt im Sommer bei einem seiner ersten Trainingssprünge nach seinem Kreuzbandriss im vergangenen Winter die gleiche Verletzung an der gleichen Stelle.
„Die schwere Verletzung ist außer für Severin persönlich auch für unser gesamtes Team sehr bitter. Sein Fehlen im Olympia-Winter zu kompensieren, wird eine große Herausforderung für uns alle", beschreibt Schuster die Ausgangslage in seiner Mannschaft vor den ersten Wettkampf-Flügen.
„Ich möchte noch besser werden"
Zwar gelangen den DSV-Adlern in Lahti auch ohne Freund gleich drei Medaillengewinne in Einzelkonkurrenzen und sogar der Titelgewinn im Mixed-Teamwettbewerb. Doch besonders im Mannschaftsspringen machte sich beim vierten Platz das Fehlen des Routiniers negativ bemerkbar – in Sotschi 2014 hingegen gelang Schusters Team der unvergessene Olympiasieg.
Für die Rolle des neuen Leitwolfs drängte sich im vergangenen Winter besonders nach Freunds erstem Malheur Andreas Wellinger auf. Der 22-Jährige flog in Lahti im Mixed mit Doppel-Weltmeisterin Carina Vogt zu Gold und außerdem jeweils zu Silber sowohl auf der Normalschanze als auch vom großen Bakken.
Dass sich Wellinger in den beiden WM-Einzelwettbewerben trotz der beachtlichen Podiumsplatzierungen letztlich zweimal noch dem österreichischen Überflieger Stefan Kraft geschlagen geben musste, wertet Schuster passend für die olympische Saison und die Winterspiele selbst als ideale Motivation. „Andi ist erst 22 Jahre alt. Dass es in Lahti noch nicht mit Einzelgold geklappt hat, ist ein riesiger Motor für ihn – für Olympia, aber auch noch für die beiden Weltmeisterschaften 2019 in Seefeld und 2021 bei unserem Heimspiel in Oberstdorf", zeigte der Bundestrainer auch mit Blick auf die insgesamt zwölf Podiumsplatzierungen seines neuen Vorzeige-Schützlings Perspektiven auf.
Die Erwartungen kommen nicht von ungefähr. Erst als dritter Athlet in der durchaus glänzenden Geschichte der deutschen Skispringer brachte Wellinger mindestens drei Medaillen von einer WM mit nach Hause zurück. Zuvor war das lediglich bei den vorangegangen Titelkämpfen 2015 in Falun bezeichnenderweise Freund und 2001 als erstem dem Idol Martin Schmitt durch sogar vier Podestplatzierungen gelungen.
Wellinger selbst geht mit der Bürde zumindest des diesjährigen Freund-Nachfolgers gelassen um. Vor der intensiven Vorbereitung auf den Saisonstart in Wisla musste zwar auch die designierte Nummer eins des deutschen Teams gesundheitliche Rückschläge verkraften, doch zuletzt zeigte die Formkurve des Bayern schon wieder nach oben. „Ich möchte", sagte Wellinger zu seinen Ambitionen in der Olympia-Saison, „ich möchte in der nächsten Zeit noch durch viel Training gerne noch besser werden. Dann muss man mal abwarten, wofür es für mich im Winter noch reichen wird."
Nicht ganz so hohe Ansprüche wie an Wellinger sind an die übrigen Athleten im Team des Deutschen Ski-Verbandes (DSV) zu stellen. Für Sprünge auf das Podest kommt aus diesem Kreis besonders Markus Eisenbichler nach seiner WM-Bronzemedaille von der Normalschanze in Betracht.
Hinter dem mutmaßlichen Topduo Wellinger/Eisenbichler rechnet sich auch Richard Freitag Chancen auf gute Platzierungen und einen Platz in Schusters Olympia-Kader aus – wenn die erhoffte Rückkehr zu früherer Stärke gelingt. Punktuell können auch Karl Geiger und Stephan Leyhe Spitzenresultate erzielen. Nach langer Verletzungspause will außerdem David Siegel ein Wort bei der Vergabe der Südkorea-Tickets mitreden.
Zusätzlicher Bonus von 25.000 Euro
International ist mit wenig Bewegung im Establishment zu rechnen. Topfavoriten auf die großen Erfolge und Titel sind Doppel-Weltmeister und Gesamtweltcupsieger Kraft und der amtierende Vierschanzen-Tournee-Sieger Kamil Stoch aus Polen.
Hinter den erfahrenen Branchenführern dagegen stehen zu Beginn des Olympia-Winters Fragezeichen. Weltcup-Rekordgewinner Gregor Schlierenzauer verpasst die Wettbewerbe in Wisla nach der vorzeitigen Beendigung der vergangenen Saison wegen einer Verletzung und wird sich erst noch an die erwünschte Form herankämpfen müssen, und der Schweizer Olympiasieger Martin Ammann flog seiner Form in den zurückliegenden Trainingswochen hinterher.
Mit Interesse erwarten Fans und Beobachter die Auftritte von Newcomer Dawid Kubacki. Das große Talent aus Polen trumpfte beim Sommer-Grand-Prix ganz groß auf, siegte in allen fünf Wettbewerben und scheint das Zeug dazu zu haben, schon in diesem Winter die angestammten Hierarchien durcheinanderwirbeln zu können.
Außer an das eine oder andere neue Gesicht neben Kubacki müssen sich die Fans der winterlichen Flugshows auch an neue Regeln gewöhnen. Damit die Topathleten keine Chance mehr auf den Verzicht auf einen Start in der Qualifikation für Weltcup-Springen haben, ist die automatische Setzung der Besten für den Hauptwettbewerb vom Weltverband FIS wenige Wochen vor Saisonbeginn abgeschafft worden. Jeder Springer muss somit an der Ausscheidung teilnehmen und dabei einen Platz unter den besten 50 erreichen, um im Wettkampf starten zu dürfen. In den vergangenen Jahren dagegen waren die besten zehn Athleten der tagesaktuellen Weltcup-Gesamtwertung direkt für den folgenden Wettkampf qualifiziert. Dadurch mussten die vielen Besucher auch schon der Qualifikationsspringen häufig auf Sprünge von den Elitespringern verzichten.
Eine besondere Regeländerung kommt beim Weltcup in Willingen zum Tragen. Bei der Generalprobe für die Olympia-Wettbewerbe Anfang Februar auf der Mühlenkopfschanze feiert das Format „Willingen five" seine Weltpremiere. Dabei fließen der Qualifikationssprung und die vier Sprünge eines Athleten in den beiden anschließenden Wettbewerben in eine gesonderte Gesamtwertung ein. Dem Gewinner winkt dabei neben den Prämien für die Ergebnisse in der Tageswertung ein zusätzlicher Bonus in Höhe von 25.000 Euro.
Bleibt noch die Frage nach den künftigen Aussichten von Severin Freund. Während seine Kollegen um die Olympia-Fahrkarten kämpfen, ackert der 29-Jährige unverdrossen für sein Comeback in der nacholympischen Saison. Eine Beendigung seiner durchaus beachtlichen Laufbahn kommt für den zweifachen WM-Champion von Falun 2015 überhaupt nicht infrage. „Ich nehme jetzt die Weltmeisterschaften 2019 in Seefeld ins Visier", sagte Freund erst unlängst wieder.
Von seinem tragischen Verletzungspech will sich der Olympiasieger nicht unterkriegen lassen: „Natürlich waren die Winterspiele in Pyeongchang in den vergangenen Jahren mein ganz großes Ziel, das ich nun abhaken musste. Aber ich habe im Laufe meiner Karriere schon einige Rückschläge erlitten und wegstecken müssen, sodass ich weiß, wie ich auch mit dieser Situation umzugehen habe."
Ob sich jedoch sein Traum von einer nochmaligen Olympia-Teilnahme realisieren lässt, erscheint fraglich: Bei den Spielen 2022 in Peking wäre Freund immerhin schon 34 Jahre alt.