Im saarländischen Homburg wurde vor 70 Jahren die erste urologische Uniklinik Deutschlands eröffnet. Die Ärzte mussten damals bei null anfangen – weil Nationalsozialismus und Judenverfolgung bisherige Errungenschaften der Medizin zunichte gemacht hatten.
Das griechische Wort Ouron bedeutet Harn. Hier rührt der Begriff Urologie her. Die Urologie ist das medizinische Fachgebiet, das sich mit den harnbildenden und harnableitenden Organen aller Menschen beschäftigt, von den Nieren über die Blase bis zur Harnröhre. Urologen sind auch Experten für Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane wie der Hoden und der Prostata. Die Urologie ist noch eine relativ junge Disziplin. Und in Deutschland lief ihre Entwicklung mit Unterbrechung, wie die Geschichte der Uniklinik Homburg zeigt.
„Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Urologie ein jüdisch geprägtes Fach", sagt Prof. Michael Stöckle, heutiger Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Die führenden Urologen im Deutschland der 20er- und 30er-Jahre waren Juden. Allen voran der Mediziner Alexander von Lichtenberg, ein Pionier dieser Fachrichtung. Von Lichtenberg hatte im Berlin der 20er-Jahre maßgeblich die urologische Abteilung des St.-Hedwig-Krankenhauses aufgebaut. Die Judenverfolgung der NS-Zeit zerstörte diese Entwicklung. Jüdische Urologen mussten fliehen oder sie wurden umgebracht. Auch von Lichtenberg verließ Deutschland und landete schließlich in Mexiko, wo er 1948 starb.
Einer der Schüler des Medizinpioniers Alexander von Lichtenberg war Carl Erich Alken. Er hatte 1938 seine Facharztausbildung am Berliner St.-Hedwig-Krankenhaus begonnen – wo Lichtenberg wegen der antisemitischen Politik des NS-Regimes offiziell keine Lehrbefugnis mehr hatte. 1939 wurde Alken Sanitätsoffizier. Und nach dem Krieg musste das eine Jahr Urologie-Ausbildung reichen. Das meiste Fachwissen war ja vernichtet oder vertrieben worden. „Dadurch musste man im Nachkriegsdeutschland die Urologie erst wieder neu erfinden", so Michael Stöckle.
1946 baute sein Vorgänger Carl Erich Alken am damaligen Landeskrankenhaus Homburg die erste urologische Klinik im jungen Nachkriegsdeutschland auf. Das Saarland gehörte damals noch zur französischen Besatzungszone und war noch nicht Teil der Bundesrepublik Deutschland. 1947 folgte die Gründung des „Institut d’Etudes Supérieures de l’Université de Nancy en Territoire Sarrois" in Homburg als Außenstelle der Universität Nancy. Das war der Vorläufer der Universität des Saarlandes. Alken arbeitet dort als Urologe, 1948 erhielt er seine Lehrberechtigung für Urologie und wurde an der Sorbonne in Paris zum „Professeur agrégé" ernannt. Sicher ein positiver Impuls für die Entwicklung der Urologie in Deutschland, denn Paris war die Keimzelle dieses Fachgebietes. Dort existiert seit 1890 der weltweit erste Lehrstuhl für Urologie. 1950 wurde Carl Erich Alken schließlich zum ersten deutschsprachigen Ordinarius für Urologie an der Universität des Saarlandes berufen.
Die deutsche Urologie konnte nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit nicht auf eigenen Füßen stehen
Das war der Beginn eines langsamen Wiederaufbaus. Auf eigenen Füßen konnte die deutsche Urologie noch lange nicht stehen. Wer als Facharzt oder Forscher etwas werden wollte, musste sich sein Know-how im Ausland suchen, zum Beispiel während eines Aufenthalts in den USA.
Erst viele Jahrzehnte nach der NS-Zeit konnte Deutschland wieder zu den innovativen Forschungsstandorten im Bereich der Urologie aufschließen. „Einer der Meilensteine war zum Beispiel die Methode der Nierensteinzertrümmerung in den 80er-Jahren", erzählt Michael Stöckle. An der 70-jährigen Geschichte der Homburger Uniklinik für Urologie und Kinderurologie lässt sich diese Entwicklung gut verfolgen. Nach Alken übernahm 1974 Prof. Manfred Ziegler die Leitung der Homburger Urologie. 1984 führte er die erste Nierentransplantation in Homburg durch und begann mit der ersten organerhaltenden Nierentumorchirurgie. 1985 gelang die erste Nierensteinzertrümmerung mit der sogenannten Lithotripsie. Ziegler richtete auch in Homburg die Fachabteilung für Kinderurologie ein.
Im Jahr 2000 übernahm Michael Stöckle die Klinikleitung und den Lehrstuhl an der Saar-Uni. Zu seinen wichtigsten Errungenschaften gehört die Einführung der roboterassistierten Operationstechnik in Homburg. Seit 2006 operieren Stöckle und sein Stellvertreter Prof. Stefan Siemer nicht nur Tumore der Prostata, sondern auch die meisten anderen Tumore des Urogenitaltraktes mit „Da Vinci"-Operationsrobotern. Er sieht hier entscheidende Vorteile für den Patienten: schonendere Eingriffe, weniger Komplikationen, eine bessere Prognose. 2016 gelang Stöckle mit dieser Maschine auch die erste roboterassistierte Nierentransplantation Deutschlands. Momentan erholt sich gerade der sechste Organempfänger von seiner robotischen Nierentransplantation.
Auch im Bereich der Forschung liegt die Homburger Klinik gut im Rennen. Prof. Kerstin Junker leitet aktuell das Forschungslabor für Molekular- und Zellbiologie an der urologischen Klinik in Homburg. Hier gewinnen die Wissenschaftler immer detailliertere Erkenntnisse über das Krankheitsgeschehen bei Krebserkrankungen. „Wir lernen heute, das Verhalten von Tumorzellen individueller einzuschätzen", so Kerstin Junker. Für einen Krebspatienten etwa bedeutet das: Der Arzt kann eine genauere Prognose stellen, das heißt, der Verlauf der Erkrankung lässt sich besser einschätzen. „Zum Beispiel, wie aggressiv ist der Tumor? Braucht der Patient eine weitere Behandlung oder nicht?" Dazu sind auch Tierversuche nötig, so die Medizinerin. „So bringt das Team um Matthias Saar zum Beispiel menschliche Prostata-Tumorzellen in eine Mausprostata und wir können so neue Therapieansätze testen." Um Tumore immer genauer zu erkennen und den Krankheitsverlauf besser vorhersagen zu können, identifizieren die Homburger Forscher sogenannte Biomarker auf verschiedenen Ebenen. Junker: „Wir wollen die Tumorbiologie verstehen, zielgerichtet eingreifen und daraus Behandlungsoptionen ableiten." Gleichzeitig haben die Mediziner gelernt, den Blick nicht nur auf den Krebs selbst zu richten, sondern eine ganzheitliche Betrachtungsweise zu entwickeln. „Wir sehen heute die Tumorentwicklung als komplexes Geschehen", so Kerstin Junker. „Dabei geht es insbesondere um die Wechselwirkung zwischen dem Tumor und seiner Umgebung."