Das Brexit-Votum offenbarte ein gespaltenes Land: Während die Mehrheit der Engländer raus aus der EU will, stimmten 62 Prozent der Schotten für einen Verbleib. Die schottische Abgeordnete Ash Denham erklärt die Hintergründe.
Frau Denham, was bedeutet der Brexit für Schottland?
Schottland wollte den Brexit nicht. In Schottland haben 62 Prozent der Wähler für einen Verbleib in der EU gestimmt. So gesehen ist der Brexit auch ein Ausdruck für ein Repräsentationsproblem innerhalb Großbritanniens. Wir verlassen die EU gegen unseren ausdrücklichen demokratischen Willen. Das große Problem ist, dass wir bis heute nicht wissen, welchen Brexit die britische Regierung überhaupt anstrebt. Auf jeden Fall wird es unsere Exporte hart treffen, und ich rede nicht nur vom schottischen Lachs.
Als Abgeordnete im Finanzausschuss haben Sie verschiedene Szenarien durchgerechnet, was der Brexit die schottische Wirtschaft kosten könnte. Wovon gehen Sie aktuell aus?
Es könnte sein, dass wir unter die Regeln der Welthandelsorganisation fallen („harter Brexit" ohne zollfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt, Anm. d. Red.). Dann würde das schottische Bruttoinlandsprodukt bis 2030 um bis zu 8,5 Prozent schrumpfen. Das zweitschlimmste Szenario wäre ein Freihandelsabkommen – da gehen wir von einem sechsprozentigen Minus aus. Am besten wäre ein Assoziierungsabkommen, wie es etwa Norwegen mit der EU vereinbart hat. Aber selbst dann rechnen wir noch mit einem Rückgang von 2,7 Prozent.
Können Sie das erklären? Zölle würden doch dann auch nicht anfallen, genauso wie heute.
Das ist nur ein Aspekt. Wenn EU-Bürger keine Arbeitserlaubnis mehr erhalten, leiden ganze Industriezweige darunter. Schon heute finden die Bauern kaum noch Personal, um Himbeeren zu pflücken – gerade in abgelegenen Gegenden leben einfach nicht genug Einheimische. Aber es trifft nicht nur den Niedriglohnsektor. Viele unserer Wissenschaftler, Professoren, Ärzte und Krankenschwestern kommen aus der EU. Im Gesundheitssektor sind sechs bis sieben Prozent der Angestellten EU-Bürger. Was passiert, wenn die alle gehen, weiß niemand.
Hat denn die Abwanderung schon begonnen?
Dazu gibt es noch keine genauen Zahlen. Ich kenne nur Anekdoten. Meine Mutter lebt seit vielen Jahren in Frankreich, hat sich dort ein Leben aufgebaut. Muss sie nun zurück? Da herrscht eine große Unsicherheit; so geht es vielen. Genauso schlimm ist die Tatsache, dass EU-Bürger gar nicht mehr auf die Idee kommen, bei uns zu arbeiten. Viele Arbeitsvermittler berichten von einem starken Rückgang der Interessenten. Manche mussten ihre Büros in Polen sogar schließen, weil sich niemand mehr bewirbt.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat versucht, EU-Bürger zu beruhigen: Sie seien auch weiterhin in Schottland willkommen. Aber wie realistisch sind solche Zusagen, wo doch die Regionalregierung über Einwanderung gar nicht entscheidet?
Das war ein Signal an Europa – ein Signal, dass wir mit gesundem Menschenverstand an die Sache herangehen, anders als die britische Regierung. Es war aber auch eine Botschaft an die Menschen, die Schottland zu ihrer Heimat gemacht haben, die teilweise seit Jahren hier leben und die gleichen Rechte genießen wie Einheimische. Für sie werden wir kämpfen, ganz gleich, wo die rechtliche Zuständigkeit liegt.
Die Schotten haben mehrheitlich gegen den Austritt aus der EU gestimmt. Trotzdem hat die Regionalregierung mit Mike Russell ihren eigenen Brexit-Minister. Wie passt das zusammen?
Sein voller Titel lautet: Minister für Verhandlungen mit Großbritannien über Schottlands Platz in Europa. Er ist vor allem ein Bindeglied zwischen der britischen und der schottischen Regierung. Sie treffen sich in unregelmäßigen Abständen im informellen Rahmen. Auf diese Weise wollen wir die schottische Perspektive bei den Brexit-Verhandlungen einbringen. Ich hoffe, das ergibt einigermaßen Sinn (lacht).
Wie viel Einfluss kann er dabei nehmen, also rechtlich gesehen?
Vor vier Jahren, vor der schottischen Unabhängigkeitsabstimmung, wurde uns immer wieder gesagt, wir seien eine Nation, die aus gleichberechtigten Teilen besteht. Das war ein Argument, um die Schotten in Großbritannien zu halten. Heute kommen andere Töne aus London: Wir sind Partner, aber nicht gleichberechtigt. Wir können Vorschläge einbringen, haben aber keinen Anspruch darauf, dass die britische Regierung sie akzeptiert. Mit dem Brexit wird sich die Situation sogar weiter verschlechtern.
Warum?
Weil die Zuständigkeiten, die jetzt auf EU-Ebene liegen, nach dem Brexit neu verteilt werden. Zum Beispiel bei der Agrarpolitik: Statt sie den regionalen Parlamenten zu überlassen, soll künftig in London darüber entschieden werden. Im EU-Austrittsgesetz ist eine Klausel enthalten – Clause 11 –, die die Dezentralisierung auf dem jetzigen Level einfriert. Die schottische und die walisische Regierung haben sich zusammengetan, um dagegen zu protestieren – obwohl in Wales eine andere Partei an der Macht ist, nämlich Labour.
Da Sie die schottische Unabhängigkeit angesprochen haben: Was hat sich seit der Abstimmung im Jahre 2014 geändert?
Ein ganz wichtiger Grund, der damals von den Unabhängigkeitsgegnern vorgebracht wurde, war Europa. Wenn wir ein Teil von Großbritannien bleiben, dann bleiben wir auch in der EU. Aber genau dieses Argument ist heute obsolet.
Also ein Grund, um noch mal über die Unabhängigkeit abzustimmen?
Ich glaube, dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Die Mehrheit der Schotten möchte sehen, wie der Brexit am Ende aussieht. Dann werden wir sehen, ob wir einen neuen Anlauf starten, vielleicht im Jahre 2020 oder 2021.
Ihre Partei, die Scottish National Party, macht sich Sorgen über den Brexit. Gleichzeitig kämpft sie für einen eigenen Staat, was ebenfalls zum Verlust der EU-Mitgliedschaft führen könnte. Sehen Sie da keinen Widerspruch?
Diese Annahme kann ich so nicht akzeptieren. Schottland ist seit mehr als 40 Jahren in der EU. Deshalb gäbe es auch kein Problem damit, in der EU zu bleiben. Es gibt viele, die das so sehen, und das ist auch meine persönliche Meinung. Trotzdem wäre das natürlich eine Frage, die man dem schottischen Volk stellen müsste: Wollt ihr in der EU bleiben? Wollt ihr in den Binnenmarkt? Wobei ich mir relativ sicher bin, wie diese Abstimmung ausgehen würde.
Noch einmal zurück zum Brexit: Auch in Großbritannien gibt es immer mehr Menschen, die ihre Entscheidung bereuen. Glauben Sie, dass es eine zweite Abstimmung geben wird?
Nein, ich glaube nicht. Natürlich haben wir viele Probleme, die sich auftun, nicht nur in Schottland. Die politische Situation in Nordirland könnte sich wieder verschärfen, wenn zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland eine harte Grenze entsteht. Die Leute sind heute besser informiert, viele sehen die negativen Folgen. Und trotzdem: Wir hatten eine demokratische Abstimmung. Die Mehrheit der Wähler hat sich so entschieden. Das müssen wir akzeptieren und das Beste daraus machen.
Das heißt?
Die britische Regierung muss endlich liefern. Sie muss einen guten Deal mit der EU aushandeln. Es gibt so viele offene Fragen: den Verbleib im Binnenmarkt. Die Rechte der EU-Bürger. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die EU würde uns sicher entgegenkommen, wenn wir ebenfalls etwas anbieten: Quidproquo. Leider kommt aus London viel zu wenig, weil die Regierung sich intern nicht einig ist. Es ist höchste Zeit, endlich voranzugehen. Die Uhr tickt.