Der Triumph von Viktor Orbán bei den ParlamentsÂwahlen in Ungarn vertieft den Riss in der Europäischen Union. Orbán kann sich nun endgültig als Sprecher für die Länder des Ostens gegen die vermeintliche Dominanz Brüssels und seiner Flüchtlingspolitik positionieren.
Begeisterung bei den Anhängern, Entsetzen bei der Opposition und vielen Beobachtern im Ausland: Zum dritten Mal in Folge hat Viktor Orbán für seine von ihm autoritär geführte Partei Fidesz eine Zwei-Drittel-Mehrheit im ungarischen Parlament geholt. Natürlich gibt es nun Einwände: Von acht Millionen Wahlberechtigten hätten doch „nur“ 2,3 Millionen für ihn gestimmt, etwa 49 Prozent der abgegebenen Stimmen. Zudem gab es seltsame Unregelmäßigkeiten, einer der Wahlverlierer sprach von einem „vorbereiteten, bewussten und bösartigen Wahlbetrug“. Tatsache ist: Es gab in manchen Wahllokalen seltsam viele ungültige Stimmen. Und es gab die kleinen Wahlgeschenke wie ein warmes Essen oder kostenlose Transportfahrten. Dennoch: Die Wahl wurde von Beobachtern der OSZE überwacht, die am Wahlkampf einiges kritisiert, aber die Auszählung insgesamt nicht beanstandet hatten. Es ist also nicht dran zu rütteln: Viktor Orbán hat einen überwältigenden Wahlsieg erzielt.
Für Brüssel und auch für Berlin und Paris heißt das: Anschnallen! Es kann stürmisch werden – vor allem, aber nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Die Opposition des Landes steht vor einem Scherbenhaufen, und viele Orbán-Gegner, die sich Hoffnungen auf eine Wechselstimmung gemacht hatten, sind nun herb enttäuscht. Der ungarische Schriftsteller György Dalos, der seit Langem in Deutschland lebt, sprach von der „Zementierung einer Ein-Mann-Demokratie“. Das ist nicht das härteste Urteil über Orbán und seine Regierungsform. Nach dem außergewöhnlichen Wahlsieg ist es noch schwieriger, diese zu verstehen. Demokratie? Autokratie? Populistischer Paternalismus? Es ist nicht zu leugnen: Ungarns starker Mann hat die große Mehrheit der Wähler des Landes hinter sich. Seine Agenda: ein Europa starker Nationalstaaten ohne Zuwanderung.
„Vergeltung“ gegen Soros-Anhänger geplant
Den Wahlerfolg verdankt Orbán in erster Linie der altbewährten Wahlkampfstrategie der Polarisierung. Ein einfaches Rezept: Man baue eine Drohkulisse auf und stilisiere sich dann zum Retter. Die Bedrohung wird auf die Person des 87-jährigen George Soros projiziert. Der hatte als Kind die Nazi-Herrschaft in Ungarn überlebt und verdiente als Fondsmanager später Milliarden. Seit einem Vierteljahrhundert fördert er zivilgesellschaftliche Gruppen in Osteuropa, durchaus mit einer klaren Agenda. Soros, so die Propaganda auf Tausenden Wahlplakaten im Land, verfolge den geheimen Plan, Europa mit Migranten zu bevölkern und die Nationen so zum Verschwinden zu bringen.
Ein mediales Dauerfeuer prasselte seit Monaten auf die Wähler ein: Staatliches und privates Fernsehen, Zeitungen und Webportale waren beherrscht von Flüchtlingsthemen, obwohl es die in Ungarn bekanntermaßen kaum gibt. Nun hat Orbán als „Vergeltung“ angekündigt, sein geplantes Gesetz gegen die von Soros unterstützte Organisationen und seine angeblich „2.000 Söldner“ im Land tatsächlich durchzubringen.
Wie in allen Ländern Mittel- und Osteuropas herrscht in Ungarn eine größere Ablehnung vor allem muslimischer Immigranten. Nation und Tradition zählen im allgemeinen Verständnis immer noch viel, die eigene Geschichte gilt als tragisch. Allerdings hat die mediale Propaganda diese Grundhaltung noch einmal erheblich verstärkt. Vor allem auf dem Land hat die Strategie verfangen: „In Ungarn sieht man auf der Straße kaum Migranten. Am wenigsten auf dem Land, also dort, wo Orbán die meisten Stimmen geholt hat“, sagt Balazs Nagy Navarro, ein Fernsehjournalist, der seit seinem Herauswurf aus dem staatlichen Fernsehen 2011 als Vize-Vorsitzender einer Journalistengewerkschaft für Medienfreiheit kämpft. Wie viele andere auch sieht Navarro die Medienfreiheit in Ungarn beschädigt. Allerdings: In Ungarn sitzt kein Journalist im Gefängnis dafür, dass er die Regierung kritisiert – wie etwa in der Türkei. Wo ist also das Problem?
Es ist der übermächtige staatliche Einfluss auf alle wichtigen Kanäle. Anders als in Deutschland ist der Rundfunk staatlich, nicht öffentlich-rechtlich. Er wurde seit Orbáns Wahlsieg 2010 an den Leitungsstellen komplett mit eigenen Leuten besetzt. Kritische Journalisten mussten den Sender sofort verlassen oder „wurden gegangen“. „Seit Jahren gibt es im staatlichen Fernsehen praktisch keinen regierungskritischen Journalisten mehr“, sagt Navarro.
Auffällig viele Aufträge mit EU-Geld für Freunde
Bei den Zeitungen sieht es noch schlechter aus: 18 der 19 Lokalzeitungen gehören zwei Orbán-nahen Unternehmern. Auf dem Land sind sie für die meisten Menschen die wichtigste Informationsquelle. Sind die Ungarn also wirklich so sehr gegen Immigranten? Oder sind sie vor allem dem medialen Dauerfeuer erlegen? „Ich denke Letzteres“, sagt Navarro. Kritik wird nicht verboten, sondern Kritikern wirtschaftlich die Luft abgeschnürt. Es gibt zwar investigative Onlineportale, die viel zur Korruption in Orbáns Umkreis veröffentlicht haben. Aber ihre Reichweite ist gering.
Bei Freedom House, einem Institut, das den Einfluss von Regierungen auf Medien weltweit untersucht, erhielt Ungarn noch 2010 beste Werte – wie Westeuropa. Aktuell ist das Land beim Indikator für politische Freiheit ganz unten im EU-Vergleich. Nach dem Wahlerfolg spürt Orbán Rückenwind. Er wird nun mit gleichgesinnten Ländern wie Polen, der Slowakei und Tschechien die Flüchtlingspolitik der EU weiter blockieren. Während aus dem Westen der Vorwurf mangelnder Rechtsstaatlichkeit kommt, schallt es aus Budapest zurück, dass die Flüchtlinge eine hauptsächlich deutsche Angelegenheit seien und die EU kein Recht auf eine Verteilung von Flüchtlingen habe. Der Riss in der EU klafft tiefer denn je.
Dabei sind es gerade die EU-Strukturhilfen, von denen das Land maßgeblich lebt. Jahr für Jahr fließen Nettotransferleistungen in Milliardenhöhe ins Land, regelmäßig mehr als drei Milliarden Euro. 2014 waren es sogar – netto – stolze 5,7 Milliarden Euro. Insgesamt erhielt Ungarn bis 2016 netto 36 Milliarden Euro an Hilfen für Autobahnen, Landwirtschaft, Industrie.
Entsprechend gut ist die Wirtschaftslage: Die Wirtschaft wuchs 2017 um 3,8 Prozent, die höchste Rate seit Jahren. Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist mit zuletzt 4,2 Prozent eine der niedrigsten in der EU. Dieser Erfolg ist nicht selbstverständlich, angesichts der Finanzkrise, in der sich Ungarn 2010 befand. Orbán schlug damals die Rezepte des Internationalen Währungsfonds in den Wind, verstaatlichte das Rentensystem und drückte ausländischen Banken und Energieversorgern hohe Lasten auf. Orbán wurde für seine interventionistische Wirtschaftspolitik von vielen scharf kritisiert. Aber sie hat funktioniert.
Das vielleicht wichtigste öffentliche Geheimnis von Orbáns Herrschaft ist, dass ein Teil der EU-Gelder an diejenigen fließt, die ihm loyal sind und die die loyalen Medien finanzieren. Ein OliÂgarch, Lajos Simicska, hatte 2014 tatsächlich mit Orbán gebrochen. Seither geht es finanziell mit ihm bergab. Am Mittwoch nach der Wahl stellte seine „Magyar Nemzet“, eine der letzten kritischen Zeitungen, das Erscheinen ein.
Bei der Vergabe von Aufträgen für EU-Mittel kommen auffallend oft die Gleichen zum Zuge. Investigative Reporter deckten reihenweise Korruptionsfälle auf. Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz war beteiligt an der Firma Elios, gegen die die EU-Betrugsbehörde Office Européen de Lutte Anti-Fraude (OLAF) schwere Vorwürfe erhob: Das Unternehmen habe illegal Aufträge in Höhe von mehreren Millionen Euro aus EU-Geldern für Straßenbeleuchtung erhalten. Orbáns Schulfreund Lőrinc Mészáros, Bürgermeister des Orts Felcsút, ist einer der reichsten Männer Ungarns. Angesichts all dieser Vorwürfe fordert die Anti-Betrugsbehörde, so viel an EU-Geldern zurückzuzahlen wie mit Abstand in keinem anderen Land.
Was passiert, wenn diese Geldquelle austrocknet? EU-Geld wird weiter fließen, auch wenn die Kritik daran in Westeuropa immer lauter wird. Aber es wird wohl weniger werden: Sandor Richter vom Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut WIIW warnt daher: „Die EU-Transfers werden nach 2019 voraussichtlich zurückgehen, sodass das ungarische Wirtschaftswachstum seine Dynamik einbüßen wird.“ Das werde für die Regierung in den nächsten Jahren eine erhebliche Herausforderung darstellen.