Christoph Ruf (46) ist ein renommierter deutscher Sportjournalist, der unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung" oder „Spiegel Online" schreibt. 2014 veröffentlichte er das Buch „Kurven-Rebellen: Die Ultras – Einblicke in eine widersprüchliche Szene".
Herr Ruf, ganz lapidar gesagt: Sind die Ultras für den Fußball Fluch oder Segen?
Ich könnte nun sagen, sie sind beides. Aber das wäre langweilig. Ich denke, sie sind eher ein Segen. Obwohl mich viele Dinge an ihnen nerven. Wie zum Beispiel die Selbstgefälligkeit oder die Gewaltbereitschaft in einigen Gruppen.
Wieso sind sie dann trotzdem ein Segen?
Man schaue sich nur die von den Ultras organisierten Proteste gegen die 50+1-Regel, nach der Invetoren die Mehrheit an einer Kapitalgesellschaft erwerben können oder die Montagsspiele an. Nur die Ultras haben es geschafft, Proteste dagegen zu organisieren. Und zwar friedliche. Ich bin sicher, die Entscheidung zum Erhalt von 50+1 wäre ansonsten anders ausgefallen.
Wie würden Sie denn die Begriffe „Fan", „Hooligan" und „Ultra" voneinander abgrenzen?
Der Begriff „Fan" ist leider sehr entwertet worden. Es gibt zwar auch den Stadion-Besucher, der zwölf Spiele im Jahr auf der Gegengeraden schaut. Aber als „Fan" gilt heute auch schon jemand, der noch nie im Stadion war und gerade mal zwei, drei Spieler benennen kann. „Hooligans" sind zum Glück eine aussterbende Spezies, die meisten Schläger aus ihrer Hochzeit sind inzwischen alt und rund, stehen im Berufsleben und haben Familien. „Ultras" sind die eingefleischten Fans, die die Stadt und den Verein repräsentieren. Sie beschäftigen sich die ganze Woche mit ihrem Verein. Zum Beispiel, indem sie Choreos entwerfen. Und sie sind extreme Groundhopper.
Ist man, wenn man bei jedem Spiel im Stadion ist, mitsingt und den Schal in die Luft hält, automatisch Ultra?
Nein. Man muss bewusst Mitglied einer Ultra-Gruppierung sein. Und man muss von den Ultras zu ihrem Umfeld gezählt werden. Ultras sind meist extrem jung, in der Regel noch im Schulalter oder diesem gerade entwachsen. Mit 25 oder 30 ist man schon alt.
Also entwachsen die Mitglieder dieser Szene auch irgendwann?
Zwangsläufig. Ultras würden das bestreiten und behaupten, allein schon vom Lebensgefühl her bleibe man das ein Leben lang. Aber man kann das ein bisschen mit der Liebe zur Musik vergleichen. Mit Anfang 20 bin ich meinen Lieblingsbands hinterhergereist. Heute bin ich vielleicht noch einmal im Jahr auf einem Festival. Irgendwann steigen einem der Chef, die Frau oder die Kinder aufs Dach, wenn man zu jedem unbedeutenden Freundschaftsspiel reist. Aber wenn man sich nur noch die Rosinen rauspickt, ist man streng genommen kein Ultra mehr.
Ein Hauptproblem vieler Vereine und auch vieler alteingesessener Fans ist der Anspruch der Ultras, ihnen gehöre der Fußball und alle müssten so sein wie sie.
Auch das würden Ultras vehement bestreiten. Aber ja, sie sind elitär. Und ja, deswegen gibt es durchaus interne Verstimmungen in mancher Fankurve. Manchmal stimmen andere Teile des Stadions ein Lied an und werden bewusst von den Ultras überstimmt, weil sie die Führungsrolle für sich beanspruchen. Und natürlich regt sich ein Fan zum Beispiel in St. Pauli auf, der 30 Jahre eine Dauerkarte hat und sich plötzlich von einem 18-Jährigen sagen lassen muss, was er zu tun und zu singen hat.
In Köln hat sich eine Ultra-Gruppierung aufgelöst. Angeblich nur, weil ihre Fahne geklaut wurde.
Ja, das war so. Man kann das lächerlich finden, aber es gehört zum Ultra-Codex dazu, dass sich eine Gruppierung auflösen muss, wenn die Fahne verlorengeht. In diesem Fall handelte es sich um einen Racheakt. Köln-Fans hatten eine Gladbach-Fahne geklaut und verbrannt. Daraufhin sind Gladbach-Fans als Köln-Fans verkleidet mit zum Spiel nach Hoffenheim gefahren und haben die Fahne geklaut.
Auch in der Vereinspolitik wollen die Ultras gerne mitreden.
Ich kenne keinen Ultra, der sich in die Transferpolitik einmischt. Aber sie mischen sich ein, wenn es um grundsätzliche Dinge geht. Wenn sie die Seele und die Tradition des Vereins gefährdet sehen.
Die Vereine erwecken meist den Eindruck, dass sie sich mit den Sorgen dieser Fangruppen wenig beschäftigen.
Das stimmt so aber nicht. Die Vereinsführungen geben es oft nicht zu, aber fast alle führen regelmäßig informelle Gespräche mit Ultra-Gruppierungen.
Dennoch scheint die Kluft zwischen beiden Seiten immer größer zu werden.
Da liegt jeder Fall anders. Nehmen wir den 1. FC Köln. Dort wurde sicher vieles falsch gemacht im Umgang mit den Ultras. Aber nach den menschenverachtenden Gesängen gegen den Stuttgarter Torhüter Ron-Robert Zieler hat der Verein klare Kante gezeigt. Wobei ich mir in solchen Fällen wünschen würde, dass auch die Selbstreinigung innerhalb der Ultras besser funktionieren würde und sich die breite Szene von diesen Idioten deutlicher distanzieren würde.
Wieso geschieht dies nicht?
Das ist vergleichbar mit der Politik. Intern werden solche Dinge diskutiert, da gibt es Auseinandersetzungen und Spaltungen, da werden immer wieder Mitglieder ausgeschlossen. Doch nach außen demonstriert die Gruppe immer Geschlossenheit. Das ist natürlich falsch verstandener Gruppenspirit.
Außer in Köln gibt es auch bei Hertha und in Hannover gefühlt unüberbrückbare Differenzen zwischen den Vereinen und den Ultras.
Aber in diesen Fällen stehen die Ultras eindeutig auf der richtigen Seite. Über die Marketing-Kampagne der Hertha, die als Start-up-Unternehmen dargestellt werden soll, lacht sich alle Welt tot. Und in Hannover sind die Ultras sicher nicht die Einzigen, die glauben, dass Präsident Martin Kind vor allem seine eigenen Interessen im Sinn hat und dort die Zukunft eines seit 122 Jahren bestehenden Vereines riskiert.
Sie hatten für Ihr Buch mit Ultras von großen Vereinen wie dem FC Bayern oder Borussia Dortmund Kontakt, aber auch von Dritt- oder Viertligisten wie Münster, Erfurt oder Aachen. Wo ist der Einfluss der Ultras am größten? Bei den großen Clubs oder dort, wo ohnehin nur ein paar Tausend im Stadion sind?
Dort, wo die Ultras zahlenmäßig und intellektuell gut aufgestellt sind. Wie zum Beispiel in Stuttgart oder Nürnberg. Dort würde sich so manch Außenstehender wundern, wenn er bei den Gesprächen zwischen den Vereinsvertretern und den Ultras dabei wäre. Die sind oft top informiert und auch juristisch gebildet.
Wie schwer war es für Sie, für die Recherche Zugang zu den Gruppen zu finden?
Es war nicht so, dass ich die Ultras komplett über Wochen im Alltag begleitet hätte. Aber ich habe viele Gespräche geführt, in vielen Fällen war ich auch mit in der Kurve.
Nachdem ich offiziell angefragt habe, haben sich die meisten erst einmal einige Tage beraten und auch entsprechend Informationen über mich eingeholt. In zwei Fällen, in Frankfurt und in Rostock, hat sich danach niemand mehr gemeldet und ich habe über persönliche Kontakte gehört, dass sie beschlossen haben, nicht mit der Presse zu reden. In allen anderen Fällen haben sie sich mir geöffnet. Viele haben eingesehen, dass sie für ihre Anliegen auch die Öffentlichkeit brauchen. Und dass sie sich besser mit der Presse auseinandersetzen, als immer nur darüber zu schimpfen, dass die Journaille sie falsch darstellt. Geholfen hat mir natürlich, dass ich durch meine vorherigen Arbeiten durchaus als fanfreundlich galt.
Wie anfällig sind Ultra-Gruppen für die Unterwanderung rechter Fangruppen?
Das kann man fast ausschließen. Vielleicht sind in einzelnen Fällen Mitglieder der ehemaligen Hooligan-Szene reingerutscht. Aber die Ultras reagieren allergisch, wenn rechte Gruppen versuchen, sie zu infiltrieren. Ultras sind eigentlich unpolitisch, tendenziell eher links, ganz sicher aber immer gegen Rechts. Das ist auch ein großes Verdienst der Ultras. Vor 20 Jahren wäre ich mit einem dunkelhäutigen Freund in Dresden nicht einmal in die Nähe des Blocks gegangen. Heute kann ich mit ihm dort reingehen. Weil die Ultras die Hooligans und Rechten als führende Gruppe abgelöst haben. Das erkennen auch der DFB und die DFL an.
Wieso bezeichnen sich manche Ultra-Gruppen als unpolitisch?
Weil sie sich alleine auf den Fußball konzentrieren wollen. Sie wissen, wenn sie sich heute gegen Tierversuche richten, müssen sie beim nächsten Mal für oder gegen etwas anderes sein. Deshalb fangen sie damit gar nicht erst an.
Aber interessieren sich Ultras wirklich alle für das Spiel oder nicht doch eher für das Drumherum?
Die allermeisten sind schon als Kinder an der Hand ihres Vaters oder Opas ins Stadion gegangen und lieben das Spiel. Aber klar, manche nehmen die Kurve und ihre Darstellung wichtiger als das Spiel. Wenn man nach einem Spiel mit Ultras spricht, wird man sowohl Fans finden, die fachlich hinterfragen können, warum der Spieler XY den Ball in der 17. Minute nicht in die Schnittstelle gespielt hat. Man wird aber auch solche finden, die vom Spiel nicht viel mitbekommen, aber genau beschreiben können, welches Plakat in der 38. Minute im gegnerischen Fanblock hochgehalten wurde. Dass die meisten das Spiel lieben, nimmt ihnen manchmal aber auch etwas Kraft. So haben sie zum Beispiel bei den Montagsspielen viele originelle Proteste gestartet. Aber die einzig wirksame Konsequenz, nämlich einfach zu Hause zu bleiben, haben die wenigsten gezogen.