Der saarländische Ex-Umweltminister Stefan Mörsdorf pilgerte nach einem Hirnschlag 120 Kilometer in ein neues Leben. Ein Gespräch über gute Freunde, Gott, die Anstrengungen des Politikbetriebs und neue Perspektiven.
Herr Mörsdorf, Sie waren zehn Jahre lang Umweltminister im Saarland, außerdem Geschäftsführer der Asko Europa-Stiftung und der Europäischen Akademie Otzenhausen. Dann kam der 16. Juli 2012, und Ihr Leben war ein anderes ...
Ich kam nach Hause und wollte Gartenarbeit machen. Ich war aber nicht mehr in der Lage, die Knöpfe von meinem Hemd zu öffnen. Meine Frau fuhr mich ins Krankenhaus, dort bin ich kollabiert. Dann fehlen mir ein paar Tage, und als ich wieder wach wurde, war ich völlig gelähmt. Die Lähmung auf der rechten Seite ging nach ein paar Tagen weg, linksseitig blieb sie, und ich musste mich an den Umstand gewöhnen, dass jetzt alles anders ist.
Ursache war eine Hirnblutung. Sie hatten schlechte Prognosen, haben sich aber daran, wie Sie selbst sagen, nicht gehalten. Wie geht’s Ihnen mittlerweile, und was können Sie wieder?
Genau, als ich in die Reha kam, sagte ich: Ich will keine weichen Bälle durch die Luft werfen, ich will in die Leistungsgruppe Stabhochsprung. Innerhalb kürzester Zeit haben sie sich in der Klinik über den „verrückten Saarländer" unterhalten. Jetzt kann ich sagen: Mir geht’s saugudd. Ich kann pilgern, ich kann Gartenarbeit machen, und ich kann mühsam lesen. Diese Dinge waren mir sehr wichtig.
Sie sind tatsächlich den Jakobsweg von Hornbach nach Metz gepilgert und haben ein Buch darüber geschrieben. Wie kam’s dazu?
Mir hat Wandern immer viel Spaß gemacht, es war ein Ausgleich zu meinem Job im Ministerium, und es war die Möglichkeit, mit jungen Menschen auf unkonventionelle Weise ins Gespräch zu kommen. Ich hatte mir dann vorgenommen zu pilgern, wenn ich mal mehr Zeit hätte. Zeit hatte ich nun, aber ich konnte nicht mehr pilgern. Dem wollte ich mich wieder nähern.
Was hat Sie dann dazu gebracht, darüber ein Buch zu schreiben?
Das kann ich nicht richtig sagen. Als ich losgelaufen bin, wusste ich nicht, wie weit ich komme. Nach meinen Etappen begann ich mir Notizen zu machen, das hat mir Spaß gemacht. Ich schickte sie einem mir bekannten Verleger, und der sagte dann, da könnte man etwas draus machen.
Auf diesem Weg hatten Sie sehr viel Begleitung, immer wieder kamen Freunde und Bekannte dazu, Sie haben bei ihnen übernachtet und sind
auch unterstützt worden. Welchen Wert hat Freundschaft in Ihrem Leben, und hat sich das durch Ihre Erkrankung verändert?
Generell hat Freundschaft für mich einen sehr großen Wert. Aus solch einer Situation, in der ich da gesteckt habe, kommt man alleine nicht raus. Man braucht auch Hilfe von außen: Familie, Freunde. Mein Glaube war wichtig und natürlich die professionelle Hilfe der Ärzte und Therapeuten. Freunde sortieren sich in dieser Situation. Plötzlich redet man über Dinge, über die man vorher nicht gesprochen hat. Aber es gibt natürlich auch Menschen – und das sage ich ohne Bitterkeit – von denen man sich anderes erwartet hätte.
Das heißt, Freunde sortieren sich, aber bei denen, die bleiben, kommen neue Themen hinzu – würden Sie da von einer neuen Qualität sprechen?
Ja. Gerade in Männerfreundschaften will man sich nicht gerne schwach zeigen. Ich habe es aber geschafft, die Stärke zu gewinnen, mich schwach zu zeigen.
Neben der Freundschaft haben Sie eben schon Ihren Glauben angesprochen. Wie hat der Ihnen geholfen?
(überlegt) Er hat mir dadurch geholfen, dass ich mich nie alleine gefühlt habe und keine Angst hatte.
Sie hatten keine Angst? Das ist bemerkenswert.
Nein. Weder in der konkreten Situation noch hinterher. Einmal beispielsweise wurde das Pilgern zu anstrengend, ich wollte zurücktrampen, aber die ersten 70 Autos haben nicht angehalten. Aber ich hatte nie die Angst, dass ich nicht nach Hause komme oder von lothringischen Wölfen gefressen werde. Das hat entscheidend mit meinem Vertrauen auf Gott zu tun.
Ihre Geschichte – so sagen Sie selbst – konnten Sie erst erzählen, seit Sie so weit gekommen sind. Sie erklären einerseits, dass Sie verschlossen sind, andererseits werden viele Menschen Hemmungen haben, ihre Geschichte zu erzählen, solange sie nicht eine Art Lösung dafür haben. Wollen wir als Gesellschaft zu selten Geschichten hören, die (noch) nicht gut ausgegangen sind?
(überlegt) Das ist einerseits etwas, was mit dem Wesen jedes Einzelnen zu tun hat. Ich für meinen Teil habe gelernt, mich stärker zu öffnen. Andererseits hören wir sicherlich als Gesellschaft lieber Erfolgsstorys als Misserfolgsstorys. Ich weiß nicht, ob ich das Buch geschrieben hätte, wenn ich etwa in Rilchingen stecken geblieben wäre.
Sie haben eben schon gesagt, Freunde haben sich sortiert, und es ist bekannt, dass sich zum Teil auch politische Weggefährten abgewandt haben. Politik ist ein Thema, über das Sie nicht mehr gerne sprechen möchten. Wie kommt das?
Politik ist ein abgeschlossenes Kapitel für mich. Das war eine gute Zeit, aber ich finde, es gehört sich nicht, wie aus der Muppet-Show heraus vom Balkon zu kommentieren, was die Jungen machen.
Aber es interessiert Sie noch und Sie verfolgen das? Ich kann mir bei Ihnen schwer vorstellen, dass Sie die Hände in den Schoß legen und denken „lass die mal machen, das juckt mich nicht mehr" ...
Ja, natürlich. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft auch deutlich mehr braucht als eine gute Politik. Uns droht das gesellschaftliche Fundament
abhanden zu kommen, und die Erwartung, dass die Politik das liefern kann, wird nicht funktionieren. Wir brauchen eine Basis in unserer Gesellschaft. Darüber müssen wir diskutieren, und da kann ich vielleicht auch etwas beitragen.
Was meinen Sie konkret damit, dass unsere Gesellschaft eine Basis braucht?
Ich glaube, wir brauchen Orientierung, was wir in unserer Gesellschaft wollen. Ein Beispiel: Im Koalitionsvertrag steht, wir wollen weltbeste Bildung, aber niemand sagt, was weltbeste Bildung ist. Ich halte auch den Hype um die Digitalisierung für zu kurz gegriffen. Es wird uns nicht helfen, wenn alle mit zwei Daumen gleichzeitig Whatsapp schreiben können. Das hat nichts mit Bildung zu tun.
Sie sagen „Hype um die Digitalisierung" – glauben Sie nicht, dass die Zukunft eine Digitale sein wird und es zum Beispiel wichtig ist, dass es auch in kleinen Orten schnelles Internet gibt?
Das ist wichtig, und das eine schließt das andere nicht aus. Aber ich glaube, dass wir unseren Kindern besser Latein beibringen sollten als in der Grundschule das Programmieren.
Warum brauchen Kinder Ihrer Meinung nach Latein mehr als Programmieren?
Latein war mein wichtigstes Fach. Ich hab‘ dort Deutsch, Grammatik, Interesse an Geschichte und Philosophie gelernt und strukturiert zu denken. Außerdem haben wir verschiedene Sinne, die Kinder draußen in der Natur entwickeln und trainieren sollten. Es kann in der Bildung nicht nur um den „Wischsinn" beim Display gehen.
In Ihrem Buch schreiben Sie in puncto internationale Politik, es sei „unvorstellbar, dass die Amerikaner eine solche Figur (Donald Trump, Anm. d. Red. ) zu ihrem Präsidenten wählen". Hat Sie das erschrocken?
Ja. Alles, was da passiert, hätte ich mir nicht vorstellen können.
Sie haben gesagt, Ihr Blutdruck sei jetzt viel niedriger. Sie glauben, Ihre Lebenserwartung sei in Ihrem neuen Leben größer als in Ihrem alten. Sind Ihre neuen Grenzen auch eine Befreiung oder Entlastung?
Ich gehe mit mir selbst achtsamer um. Zehn Jahre lang Mitglied einer Landesregierung zu sein, heißt auch, auf der Überholspur zu leben. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ich habe mein Idealgewicht, alle sagen, ich sähe jünger aus als vor zehn Jahren. Ich habe einen Blutdruck wie ein junger Hund, und meine Risikofaktoren haben sich verbessert. Ich freue mich darauf, auch mit Behinderung, die nächsten 40 Jahre noch gut zu leben. Das heißt, die Schönheit unserer Welt bewusst wahrzunehmen und einen Beitrag zu leisten, dass diese Welt nicht schlechter, sondern besser wird.
Am Schluss des Buches heißt es „So weit ich auch gekommen bin, noch lange bin ich nicht am Ziel (…)". Was sind denn Ziele für die Zukunft?
Ich will dieses Jahr bis Dijon weiterpilgern. Ich freue mich auch auf Burgund, und ich möchte schauen, wie weit ich in den Tiefen Frankreichs komme. Vielleicht könnte ich in drei, vier Jahren auch eine Pyrenäen-Überquerung wie als Student schaffen. Es gibt auch einen Arbeitstitel für ein neues Buch: „Auf nach Taizé". Der Titel ist geografisch und inhaltlich Programm.