Namika eroberte vor zwei Jahren mit der Single „Lieblingsmensch" die Charts. Nun erscheint das zweite Album „Que Walou". Darin verschmelzen unterschiedliche Elemente wie Alternative-Pop, Hip-Hop und orientalische Klänge zu eigenständigen Songs.
Namika, „Que Walou" ist eine Redewendung aus dem in Zentralmarokko gesprochenen Berberdialekt Tamazight. Sie bedeutet entweder „wie nichts" oder „für nichts". Was wollen Sie damit ausdrücken?
Ich habe daraus mein eigenes Mantra entwickelt. Selbst wenn ich etwas für nichts gemacht habe, habe ich es gern gemacht.
„Ahmed (1960–2002)" haben Sie Ihrem Vater gewidmet, den Sie nie kennengelernt haben. Haben Sie mit Ihrer Mutter viel über Ihren Vater gesprochen?
Ich habe meine Mutter natürlich befragt, und sie hat mir die Geschichten erzählt, durch die ich dann den Song schreiben konnte. Als Kind hat mir eine Hälfte gefehlt. Ohne dieses verloren gegangene Puzzlestück gab es für mich kein ganzes Bild.
Was wissen Sie über Ihren Vater?
Er stammt aus Marokko aus einem relativ wohlhabenden Elternhaus. Er musste nie wirklich arbeiten. Und dann kam er nach Deutschland; ein Land, das vom System her komplett anders funktioniert. Hier musste er feststellen, dass er keinen Anschluss findet. Er kam nicht damit klar, dass man in Deutschland im Prinzip nichts ist, wenn man nicht arbeitet. Meine Mutter hat die Miete bezahlt, als sie noch schwanger mit mir war. Es war ihm alles zu viel, nehme ich an. Auf einmal war er verschwunden; auch kein Privatdetektiv hat ihn aufspüren können. Bis wir nach ein paar Jahren herausfanden, dass er abgeschoben wurde und in Marokko im Gefängnis saß. Es fiel mir schwer, den Song zu schreiben. Aber ich wollte dieses Thema endlich abhaken. Und ich möchte Menschen Mut zusprechen, denen es ähnlich ergeht. Schlechte Verhältnisse müssen kein Hindernis für Glück sein.
Wie erging es Ihrem Vater nach dem Gefängnis?
Als er aus dem Gefängnis kam, wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, und er wollte uns zurückhaben. Das hat mein Großvater verneint und ihn zurückgeschickt mit der Begründung, wo er denn all die Jahre gewesen sei und mit welchem Recht er seine Tochter zurückfordere. Noch nicht mal er selbst kam zu uns, sondern sein Schwager. Der hat damit gedroht, dass mein Vater mit Anwälten und dem Königshaus vernetzt sei. Er würde mich sogar kidnappen. Seitdem durfte ich bei Besuchen in Marokko nie wieder alleine draußen spielen, auch nicht vor der Haustür.
Wie geht es Ihnen heute nach diesen Erfahrungen?
Die eine Hälfte fehlt mir bis heute. Meine Mutter hat versucht, diese Lücke mit sehr viel Liebe zu füllen, aber man braucht wohl einfach einen Vater. Heute kann ich anders damit umgehen, und vielleicht werde ich seine Perspektive verstehen, wenn ich einmal selbst Kinder in die Welt setze. Ich vermute, er war damals noch viel zu sehr Kind, um ein Vater zu sein. Dafür habe ich heute ein wenig Verständnis. Als Kind war ich hingegen wütend auf ihn, auch mal traurig. Aber jetzt kann ich mein Leben selbst gestalten und bin von niemandem abhängig.
Sie haben mit 14 Jahren begonnen, zu rappen. Wie waren Ihre Anfänge?
Ich habe sehr spielerisch mit Fantasie-Englisch angefangen – mit meinem Cousin, der einen Monat jünger ist als ich. Meine Großeltern hatten ein Tapedeck und wir haben uns immer beim Plus-Markt unbespielte Kassetten gekauft. Mein Cousin hat die Beatbox gemacht und ich habe gerappt.
Hatten Sie später den Anspruch, einen eigenen Stil zu entwickeln?
Mit der Zeit habe ich es ernster gemeint. Dazu gehörte auch richtiges Songwriting und nicht nur gute Flows und gutes Beatboxing. Viele Künstler, die ich mochte, haben mich dazu gebracht, Hip-Hop zu hören und zu verstehen. Unter anderem Lauryn Hill, Missy Elliott, Busta Rhymes, 2Pac und The Notorious B.I.G. Meine Tante hat mich zum Hip-Hop gebracht, sie ist zehn Jahre älter als ich und hat immer coole neue Musik mitgebracht. Später habe ich mir mit Freunden eigene Musikstudios gebaut. Wir haben Mikrofone aufgestellt und die Wände mit Eierkartons schalldicht gemacht.
Namika bedeutet auf Berberisch „Schreiberin". Sie haben die Werke von Brecht und Goethe gelesen. Was hat Sie daran fasziniert?
Ich habe sie in der Schule gelesen und mochte alles, was mit Lyrik zu tun hat und einen Kunstbezug hatte. Deutsch war eines meiner Lieblingsfächer, gerade wegen des kreativen Aspekts. Ich wäre aber nicht von allein darauf gekommen, mir Bücher von Goethe und Schiller zu kaufen und diese zu Hause schön im Bett durchzulesen. Es war anstrengend, zu verstehen, was sie da sagen wollen, weil es eine alte, sehr hochgestochene Sprache ist. Aber Goethes „Faust" ist faszinierend!
Hat Ihnen Goethe dabei geholfen, eine gute Rapperin zu werden?
Vielleicht hat er mich weniger geprägt, aber ich fand Goethe cool. Es hat mich sehr beeindruckt, dass jemand zu der Zeit ein ganzes Buch in Reimen geschrieben hat. Ich habe mich mit ihm in dieser Hinsicht identifizieren können. Deswegen hat es mir Spaß gemacht, seine Texte zu lesen. Auch wenn ich jede Seite dreimal lesen musste, um den Inhalt zu verstehen.
Welche Vision hatten Sie von Ihrer Musik?
Ich habe immer sehr gemischte Musik gehört und auch Mary J. Blige, die Spice Girls und Mariah Carey gefeiert. Deshalb singe ich auch viel in meinen Songs und rappe nicht nur.
Welchen Einfluss hat Marokko auf Ihre Musik?
Die Musik in Marokko hat mich immer sehr interessiert. Sie hat eine ganz andere Rhythmik und Noten, die es im europäischen Notensystem gar nicht gibt. Sie ist sehr tanzbar, weshalb sie auch Einfluss auf meine Musik genommen hat.
Sie sind zwischen zwei Kulturen aufgewachsen. Empfinden Sie es als aufregend, an verschiedenen Orten zu Hause zu sein?
So ist es. Ich habe immer die Sommerferien in Marokko verbracht und mir dort sechs Wochen lang den Hintern flach gesessen. Es war für mich wie ein zweites Zuhause, weil meine Großeltern dort ein Haus haben. Die Kinder spielen dort anders als hier und sind viel länger draußen. Das mochte ich sehr gerne. Weil die Kinder nicht die schicksten Spielzeuge hatten, haben sie sich einfach ein Spiel ausgedacht – mit Steinen. Ich saß daneben und sie erklärten mir, wie das geht. Während wir in Europa immer auf der Jagd nach der neuesten Barbie waren.
Welche Möglichkeiten haben junge Menschen wie Sie in Marokko?
Diese Frage kann ich nicht fundiert beantworten. Mein Cousin zum Beispiel studiert dort. Dadurch gibt es die Möglichkeit, mit einem Visum nach Europa zu kommen, um hier weiterzustudieren. Ich habe den Eindruck, dass viele das nicht nutzen können aus den verschiedensten Gründen.
In welchen Verhältnissen sind Sie in Frankfurt aufgewachsen?
Meine Mutter war alleinerziehend. Sie musste jobben. Währenddessen war ich oft bei meiner Oma. Nachdem meine Mutter wieder schwanger geworden war, konnte sie nicht mehr arbeiten und war aufgrund der Kinder auf Geld vom Staat angewiesen. Materiell hatten wir nicht viel, aber Liebe war immer da.
Hatten Sie einen multikulturellen Freundeskreis?
Unser Schulhof sah sehr bunt aus, und wir haben uns untereinander super verstanden. Wir hatten sogar einen eigenen Slang. Mit Wortneuschöpfungen und Abkürzungen. Wir dachten, wir seien super kreativ und kein anderer Mensch würde uns verstehen. Das war im Prinzip wie Rap.
Welche Rolle spielte Ihr Migrationshintergrund in Ihrer Kindheit und Jugend?
Keine nennenswerte. Es gab hin und wieder dumme Kinderrangeleien, wo das Wort „Ausländer" gefallen ist. Oder ein verbitterter alter Mann in unserer Siedlung sagte solche Sachen. Aber den konnte man nicht ernst nehmen. Ich hatte eine tolle Kindheit, auch wenn die Umstände mir manches erschwert haben.
Haben Sie sich bei Ihrem Song „Roboterliebe" von der deutschen Elektronikband Kraftwerk inspirieren lassen?
Nein. Den Song habe ich geschrieben, weil mir aufgefallen ist, wir rasant die Zeit verfliegt und wie sehr alles im Wandel ist. Dauernd gibt es neue Dinge und die Welt ist krass digitalisiert worden. Ich habe noch beide Welten mitbekommen, die analoge und die digitale. Ich habe mit Gameboys gespielt und mit 14 mein erstes Nokia 3210 bekommen. Heute hingegen bekommen Kinder mit zehn ihr erstes iPhone. Anstatt rauszugehen, treffen sie sich in Gameportalen, um miteinander zu reden und zu spielen. Ein totales Kontrastpaket! Dadurch geht das Zwischenmenschliche verloren.
Ihre Lieder drehen sich oft um Zwischenmenschliches. „Hände" zum Beispiel haben Sie Ihrer Großmutter gewidmet. Was bedeutet sie Ihnen?
Meine Großmutter bedeutet mir sehr viel, weil ich teils bei ihr aufgewachsen bin. Sie hat viel auf mich aufgepasst in der Zeit, als meine Mutter arbeiten musste. Meine Großmutter ist das stille Familienoberhaupt. Sie ist sehr weise und war immer ein Vorbild für mich. Man hörte von ihr nie ein schlechtes Wort. Immer wenn ich Quatsch gemacht habe, sagte meine Großmutter eine Zeile auf Amazighisch zu mir. Es klang, als würde sie mich aufs Übelste verfluchen. Bis ich dann irgendwann meine Mutter nach der Bedeutung fragte.
Und was bedeutete es wortwörtlich?
„Möge Gott dir Reichtum schenken!" Selbst im Zustand der Wut hat sie also noch etwas Gutes zu mir gesagt! Sie war davon überzeugt, wenn Eltern oder Großeltern die Kinder verfluchen, dann wird der Fluch wahr.
Waren Sie schon als junges Mädchen sehr selbstbewusst?
Ich war nicht wirklich laut, aber wenn man mich herausgefordert hat, habe ich mir auch von Jungs nichts gefallen lassen. Das hat mir bei ihnen Respekt verschafft und ich war eines von den Mädchen, die mit ihnen abhängen durften. Alle anderen Mädchen waren für die Jungs „bäh".
Gab es viele rappende Jungs in Ihrem Bekanntenkreis?
Es gab ein paar, die Rap interessant fanden, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sonst noch jemand aus meiner Schule Musik gemacht hat.
Haben Sie mit 14 angefangen zu rappen, weil Sie Jungs imponieren wollten?
Nein, einfach, weil ich es toll fand. Ich fand es total cool, wie man auf einen Takt rappt. Deine Stimme wird ja für einen Groove benutzt. Vor Rap gab es immer nur Gesang. In Amerika gingen Leute auf die Straße und sagten, was ihnen auf der Zunge lag. Das fand ich unheimlich stark und wollte es für mich nutzen und Sachen sagen, die mir auf der Seele brennen.
Fragt man Männer nach den Gründen, weshalb sie Musik machen, bekommt man häufig zur Antwort: um Frauen zu beeindrucken.
Ich nehme an, dass das bei Männern ein positiver Nebeneffekt ist. Ich glaube, tief im Innersten kann man nur guten Rap machen, wenn man genau deswegen Rap macht, wofür er grundsätzlich steht, nämlich rauszugehen und für etwas einzustehen. Eine Haltung zu haben, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Und dadurch auch zu polarisieren. Rap ist unangenehm, weil er auch unschöne Dinge anspricht.
Wie kam es zu dem Song „Dschungel im Kopf"?
„Dschungel im Kopf" beschreibt meine Innenperspektive. Manchmal ist es in meinem Kopf ganz schön wild – wie in einem Dschungel. Das Leben besteht zu 80 Prozent aus Reflektieren. Ich meine für die Leute, die reflektieren.