Es gab keinen Plan für den Brexit. Wie wird sich Großbritannien künftig zur EU positionieren? Und wird die britische Regierung ersetzen, was durch die EU wegfällt? – „Man fragt sich schon, wie das funktionieren soll", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Haas vom Jacques Delors Institut Berlin.
Herr Haas, haben Sie das Gefühl, die EU ist dabei, sich nach dem Brexit zusammenzuraufen?
Am Beispiel Irland kann man sagen, das der Brexit die EU zumindest kurzfristig zusammengeschweißt hat. Bei den Verhandlungen über die Zukunft der inner-irischen Grenze stehen die anderen 26 stehen voll hinter Irland. Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hat sogar den Vorschlag gemacht, Nordirland zolltechnisch in der EU zu belassen. Der Brexit wurde als Bedrohung der EU wahrgenommen. Da wirkt das alte Prinzip: Eine externe Bedrohung schweißt eine Gemeinschaft zusammen. Aber das kann keine langfristige Grundlage sein.
Was halten Sie von dem ersten Haushaltsentwurf der EU-Kommission nach dem Brexit?
Insgesamt war ich positiv überrascht. Einerseits kam aus mehreren EU-Staaten die Forderung, mehr für Forschung, Migrationsmanagement und Verteidigung auszugeben. Andererseits wollten viele Staaten die alten Ausgabenpositionen nur wenig kürzen, also die Agrarsubventionen zum Beispiel. Gleichzeitig gab es angesichts des bevorstehenden Austritts Großbritanniens Druck, die Gesamtausgaben zu begrenzen. Die Kommission stand vor der Aufgabe, einen Haushalt vorzuschlagen, der das alles berücksichtigt und trotzdem niemanden verprellt.
Aber mehr zahlen müssen doch jetzt alle…
Das lässt sich nicht vermeiden – es sei denn, man kürzt den Haushalt ganz radikal zusammen. Doch da fehlen Vorschläge.
Was fällt durch den Briten-Austritt noch weg?
Das Rabatt-System zum Beispiel. Bisher hatten wir ein ganz kompliziertes System, wonach die Briten weniger zahlen mussten und andere mehr. Dann gab es Rabatte, die auf unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen beruhten oder Pauschalrabatte – das war ein ganzer Kosmos. Ein guter Teil dieses Systems bricht nun zusammen. Das System war so unübersichtlich, dass es höchstens ein Dutzend Spezialisten verstanden.
Auch die Queen bekommt für ihre königlichen Güter jetzt keine Agrarsubventionen mehr – geht das denn überhaupt?
Interessant wird, ob die Briten das, was die EU bisher gezahlt hat, jetzt selbst übernehmen. Die britischen Bauern haben da ganz klare Erwartungen: Jetzt soll die Regierung zahlen.
Die britische Regierung tritt an die Stelle der EU?
Man hat in Großbritannien viel Werbung damit gemacht, was man mit den gesparten EU-Beiträgen alles Gutes tun werde, für das Gesundheitswesen zum Beispiel oder andere soziale Bereiche. Gleichzeitig möchte aber niemand, der bisher von der EU profitiert hat, auf das Geld verzichten.
Wie viel ist das in Zahlen?
Die Briten gehören wie Deutschland zu den Nettozahlern der EU, das heißt sie zahlten in der Vergangenheit im Schnitt 17 Milliarden Euro ein, bekamen aber sieben Milliarden Euro heraus. Noch ist Großbritannien in der EU. Gerade sieht es so aus, als würden sie bis 2020 sowohl noch einzahlen als auch Geld bekommen. Bei einem harten Brexit fällt das alles weg, aber auch die Wirtschaft leidet und die Steuereinnahmen sinken. Gleichzeitig kündigt die Regierung May höhere Staatsausgaben an, will aber die Unternehmenssteuern senken – da fragt man sich schon, wie das funktionieren soll.
Also haben die Briten keinen Plan?
Es gab viele verschiedene Pläne, auch schon vor dem Brexit. Die Regierung May kann sich nur nicht auf einen einigen. Das war ja auch die Schwachstelle des ganzen Referendums. Die Leute wurden nur gefragt: raus oder rein – und nicht genau, was raus heißen würde.
Haben das die Briten nicht selbst gemerkt, dass es da keinen Plan gab?
Vieles beim Brexit war nicht von konkreten Überlegungen geleitet bei den „Brexiteers", sondern von Empfindungen: Wir wollen völlig souverän sein, auch wenn das wirtschaftlich kostspielig ist, auch wenn wir ärmer werden. Es waren vor allem die Älteren, die bei der Brexit-Abstimmung den Ausschlag gaben. Und die haben offenbar unterschätzt, wie abhängig ein einzelnes Land heute von seinen Handelspartnern ist.
Hat Großbritannien über die Beitragszahlungen noch weitere Verpflichtungen?
Die EU plant ihre Ausgaben langfristig. Manche Mittel werden zugesagt, aber erst später abgerufen – das nennt man Verpflichtungsermächtigungen. Beispiel: Man beschließt in Frankreich, im Jahr 2020 eine Brücke zu bauen. Das Geld dafür wird von der EU auch mit Zustimmung der Briten jetzt schon versprochen, aber erst 2022 oder später ausgezahlt. Die Briten haben zugesagt, diese Gelder zu zahlen. Das ist im Dezember 2017 relativ geräuschlos über die Bühne gegangen. Die britische Öffentlichkeit warf damals Premierministerin Theresa May vor, eingeknickt zu sein.
Glauben Sie, die Briten nehmen den Brexit wieder zurück?
Es gibt eine Bewegung, die das möchte, aber ich glaube nicht, dass sie damit Erfolg hat. Viele scheinen sich, auch wenn sie gegen den Austritt waren, damit abgefunden zu haben und auf enge wirtschaftliche Beziehungen zu hoffen.
Käme für Großbritannien das Modell Norwegen in Betracht?
Die Länder, die in die EU integriert sind ohne Mitglied zu sein, akzeptieren die Personenfreizügigkeit. Das wollen die Engländer gerade nicht. Sie wollen die Zuwanderung aus den EU-Staaten begrenzen. Das verträgt sich nicht: Enge wirtschaftliche Integration und personelle Abschottung.
Und der Zugang zum Binnenmarkt?
Der ist ohne die Personenfreizügigkeit schwer denkbar. Außerdem zahlen Norwegen und die Schweiz schließlich für diesen Zugang – nicht offiziell, sie geben dann halt Mittel zum Beispiel für ärmere Länder in der EU. Das wollen die Briten aber auch nicht.
Wie geht das ohne die Briten mit dem Haushalt weiter?
Der Entwurf geht durch die Gremien: EU-Finanzminister, Europäischer Rat, EU-Parlament. Wobei das Parlament nur zustimmen oder ablehnen kann. Knapp wird es, weil wir in weniger als einem Jahr, Mai 2019, Europawahlen haben. Der letzte Haushalt brauchte mehr als zwei Jahre bis zu seiner Verabschiedung.
Das klingt nicht gerade bürgerfreundlich…
Das spiegelt eben wider, dass man nicht per Mehrheit entscheiden kann, sondern alle Mitgliedstaaten berücksichtigen muss. Jeder kann den Haushalt mit einem Veto zu Fall bringen.
Was werden die Staaten ändern?
Der Klassiker bei den Verhandlungen ist, dass genau diese Bereiche schrumpfen werden, für die sich vorher viele Länder stark gemacht hatten: Bildung und Forschung, etwa, ein Bereich, der keinem Land explizit zugeordnet ist. Je unklarer es ist, wo das Geld hinkommt, desto weniger mögen die Länder das. Bei den Agrarsubventionen und den Geldern für die Strukturpolitik – da weiß jeder, was er bekommt. Und da ist der Willen zum Sparen eher schwach.
Der Haushaltsentwurf sieht vor, dass man Geldzuwendungen an politische Forderungen knüpft. Geht das denn?
Wenn ein Land sich nicht längerfristig an Defizitgrenzen hält, können bestimmte Zuwendungen ausgesetzt oder Geldstrafen verhängt werden. Das war im Falle Spaniens und Portugals schon früher im Gespräch, wurde aber nicht umgesetzt. Wenn man dieses Mittel nicht hat – wie soll man es sonst schaffen, dass Regeln eingehalten werden?
In dem neuen Vorschlag geht es nicht um Fiskalregeln, es geht um Rechtsstaatlichkeit…
Die Kommission sagt ganz klar: Wo die Gerichte nicht unabhängig sind, dahin können wir auch kein Geld fließen lassen.
Aber alle Staaten müssen dem Haushalt doch zustimmen, auch diejenigen, die von Sanktionen betroffen wären. Wie geht das?
Das kann man zur Not durch einen Taschenspielertrick umgehen. Man beschließt gemeinsam die Gesamthöhe. Die Regeln für die Geldverteilung legt man dann in einem anderen Gremium fest. Die EU kann dann im Gegenzug einen Handel anbieten: weniger starke Kürzung der Strukturmittel, dafür mehr Rechtsstaatlichkeit.
Hat sich das Verhältnis Deutschland-Frankreich nach der Brexit-Ankündigung verändert?
Macron hat auf den Brexit reagiert und viele Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU gemacht. Deutschland verhält sich noch zögerlich, doch es ist klar, dass es nach dem britischen Austritt nicht weitergehen kann wie bisher. Insbesondere muss geklärt werden, wie die Eurozone reformiert werden soll. Wie akut das ist, sieht man am Beispiel Italien. Da grassiert bei uns die Befürchtung, für die Schulden anderer Staaten haftbar gemacht zu werden, aber es gibt keine konstruktiven Gegenvorschläge.
Wie schätzen Sie die Stimmung in Deutschland ein?
Für Deutschland läuft derzeit alles super: die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosenquote ist niedrig, der Export floriert. Von Deutschland aus scheint kein Reformbedarf in der EU vorhanden. Dabei vergessen wir, dass es nicht allen EU-Staaten so gut geht.
Wie entwickelt sich die EU weiter?
Politisch wird es interessant, wie sich die Staaten verhalten, die sich näher an Großbritannien orientiert haben. Schweden, Dänemark, die Niederlande – die fühlen sich ein bisschen verlassen. Die stehen auf dem Standpunkt, für den Haushalt bezahlen wir keinen Cent mehr. Die Ostseeanrainer haben sich gegen eine Vertiefung der Eurozone verbündet – die sind strikt gegen Macrons Vorschläge. Der britische Austritt bringt das Bündnisgefüge in Bewegung.