Christopher Froome gewinnt den Giro und könnte mit einem fünften Tour-Sieg Geschichte schreiben. Aber darf er auch starten? Und wenn, wäre das im Sinne des sauberen Radsports?
Christopher Froome stand mit dem Rücken zur Wand, also suchte er sein Heil in der Attacke. Mit einem denkwürdigen und viel diskutierten 80-Kilometer-Soloritt stürmte der britische Radprofi, der beim Giro d’Italia zwei Wochen lang jede Dominanz vermissen ließ, auf der Königsetappe nach Bardonecchia ins Rosa Trikot. „Una fuga d’altri tempi", eine Flucht aus einer anderen Zeit, schrieb eine italienische Zeitung hinterher.
Auch bei George Bennett, Kapitän des niederländischen Profiteams Lotto NL-Jumbo, kamen Erinnerungen an eine unschöne Episode des Radsports auf. „Er ist jetzt der Leader? Willst du mich veräppeln? Er macht einen Landis? Unglaublich!", sagte Bennett unmittelbar nach der Zielankunft. Einen Landis machen – damit ist ein Vergleich des Husarenritts von Floyd Landis bei der Skandaltour 2006 gemeint, als der Amerikaner nach einem kolossalen Einbruch am Vortag im 120-Kilometer-Alleingang den Grundstein zu seinem Gesamtsieg legte. Der ihm jedoch nachträglich aberkannt wurde, weil Landis bei jener Etappe des Dopings überführt worden war.
Bennett betonte hinterher zwar eilig, er habe mit dem Vergleich keine Doping-Andeutungen machen wollen, aber eines ist Fakt: Der Zweifel fährt bei Christopher Froome mit. Den Gesamtsieg in Italien, der ersten Schritt zu seinem angepeilten Giro-Tour-Double, steht nur unter Vorbehalt. Genau wie sein Start bei der Tour de France. Beim viermaligen Gewinner der Großen Schleife war im September des vergangenen Jahres das Asthma-Mittel Salbutamol nachgewiesen worden – und zwar doppelt so hoch wie der festgelegte Grenzwert.
Laut Regularien der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada darf der Beschuldigte so lange seiner Tätigkeit nachgehen, bis der Fall abschließend bewertet ist. Und da der Radweltverband UCI keine schnellere Entscheidung fällen wollte oder konnte, saß Froome – von den Rivalen und Medien skeptisch beäugt – beim Giro im Sattel. Und ähnlich könnte es bei der Tour de France sein, die am 7. Juli in Noirmoutier-en-I’lle mit einer 201 Kilometer langen Flachetappe ihren Grand Départ hat. „Jetzt hätte ich gerne, dass dieser Fall vor der Tour geklärt ist", sagte UCI-Präsident David Lappartient. „Aber man muss realistisch sein: Ich glaube nicht, dass das passieren wird."
Tour-Direktor Christian Prudhomme spricht von einer „völlig grotesken" Situation und fordert „eine Antwort vom Weltverband UCI" – und zwar schnell. Ein Froome-Start in Frankreich wäre für Bernard Hinault „ein Skandal". Der fünfmalige Tour-de-France-Sieger ist, wie viele andere auch im Radsport-Zirkus, wenig begeistert, dass Froome trotz der ungeklärten Situation Rennen bestreitet. „Es gab einen positiven Test von ihm", sagte der 63 Jahre alte Franzose der belgischen Zeitung „Het laatse Nieuws": „Er muss suspendiert werden und hätte gar nicht beim Giro-Start stehen dürfen." Froome selbst sieht das natürlich anders. „Ich hatte jedes Recht, hier am Start zu stehen", sagte der 33-Jährige. „Ich wiederhole mich: Ich habe nichts verbrochen."
Dass Froome Asthma-Mittel einnimmt, war schon vor dessen verdächtiger Probe bekannt, es war sogar von zuständigen Stellen genehmigt. Froome hat eine medizinische Ausnahmegenehmigung (TUE), genau wie viele andere Radprofis von Sky wie der ehemalige Profi Bradley Wiggins. Aufgedeckt wurde dies durch die Hacker-Gruppe „Fancy Bears", hinter der vermutlich russische Cyber-Piraten stecken.
Das hat sogar die Politik auf den Plan gerufen. In einem hochbrisanten Bericht eines Sonderausschusses des britischen Parlaments wurde Sky dafür kritisiert, die Ausnahmegenehmigungen zu eindeutig leistungssteigernden Zwecken missbraucht zu haben. Dies stelle zwar keine explizite Verletzung des Anti-Doping-Codes dar, doch Teammanager David Brailsford habe „die ethische Linie" überschritten, hieß es in dem Bericht.
Uci verliert an Glaubwürdigkeit
Für Froome könnte es nun brenzliger werden als für Wiggins, denn die bei ihm gemessene Dosis des Asthma-Mittels Salbutamol war deutlich über dem erlaubten Wert.
Warum aber braucht der Weltverband UCI so lange für ein Urteil? Das dürfte auch am Sky-Rennteam liegen, das nicht nur auf der Rennstrecke eine aggressive Taktik fährt. Sky soll bereits mindestens sieben Millionen Euro in die Verteidigungsstrategie gesteckt haben. „Mit welchem Recht bekommt Froome so viel Zeit, sich zu rechtfertigen. Weil sein Team Sky so viel Geld hat?", fragt sich nicht nur Hinault. UCI-Präsident Lappartient gerät mehr und mehr unter Druck. Der Franzose hatte mit seinem Aktionspaket „Glaubwürdigkeit" überraschend die Verbandswahlen gewonnen, doch mit jedem Tag, der ohne eine Entscheidung in der Froome-Affäre verstreicht, verliert die UCI weiter an Glaubwürdigkeit. Trotz guter Ansätze im Anti-Doping-Kampf, wie die Vorreiterrolle beim Blutpass, gelingt es der UCI immer wieder, den Eindruck der Untätigkeit zu erwecken. Mindestens. „Das ist keine Laxheit der UCI", verteidigt sich Präsident Lappartient. „Wenn man 1.500 Seiten eines wissenschaftlichen Berichts hat, muss man diesen analysieren sowie das Verfahren und Chris Froomes Rechte genauso wie die unseren respektieren."
Vor allem die radsportverrückten Franzosen fordern Froomes Ausschluss von „ihrer" Tour. Der britische Dominator der vergangenen Jahre konnte das Herz der Franzosen mit seiner kühlen Art nie gewinnen. Im Gegenteil: Er wurde verbal attackiert, am Streckenrand sogar bespuckt und mit Urinbeuteln beworfen. Es ist unschwer zu erraten, wie vergiftet die Atmosphäre sein wird, sollte Froome trotz der Affäre bei der Tour starten dürfen.
Außerdem gibt es da einen Franzosen namens Romain Bardet, der als ausgezeichneter Klassementfahrer gilt und dessen Chancen auf einen Tour-Gesamtsieg deutlich steigen würden, wäre Froome nicht am Start. „Ich möchte an das Gute in Chris Froome glauben", sagt Bardet, „aber wenn die Grenze der Werte überschritten ist, schreiben die Regeln eine Strafe vor. Wir können uns Toleranzen nicht länger leisten."
Der Hass von manchen Fans, die Skepsis aus dem Fahrerfeld, die Anschuldigungen in den Medien – und doch fährt Froome wie ein Eisvogel zum Giro-Sieg, was er selbst als „größten Kampf meiner Karriere" bezeichnete. „Ich denke, das ist Teil meines Charakters. Ich war immer gut darin, Dinge auszublenden", sagte der im kenianischen Nairobi geborene Radprofi. Verständnis für die Gegenseite? Fehlanzeige. „Ich habe jedes Recht, dabei zu sein."
Das gelte auch für die Tour. Dort will Froome Geschichte schreiben, denn ein Giro-Tour-Double gelang zuletzt dem mittlerweile verstorbenen Marco Pantani 1998. Durch die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland findet die Tour in diesem Jahr eine Woche später statt, der zeitliche Abstand zum Giro vergrößert sich dadurch also. „Wir alle haben in der Vergangenheit gesehen, wie Fahrer daran gescheitert sind, vor allem in der dritten Woche", sagt Froome betont zurückhaltend. „Das ist eine große Herausforderung für mich."
Doch auf der anderen Seite ist Froome auch eine Herausforderung für die Tour. Viele Doping-Skandale haben das traditionsreichste Radrennen in der Vergangenheit in eine Krise gestürzt, die ARD war erst nach einer Pause wieder mit einer Live-Berichterstattung eingestiegen, weil sich vor allem im deutschen Radsport viel im Anti-Doping-Kampf getan hatte.
Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin war deshalb in seiner ersten Reaktion auch sauer und beschuldigte die UCI, im Fall Froome „definitiv mit zweierlei Maß" zu messen. Nachdem der Verband den deutschen Profi des Teams Katusha Alpecin rechtlich aufgeklärt hatte, ruderte dieser zurück. Die UCI habe sich „regelkonform" verhalten und Froome habe „keine Sonderbehandlung" erfahren, teilte Martin auf seiner Internetseite mit.
„Beim vorliegenden Verstoß hat laut Reglement jeder Sportler die Möglichkeit, sich zu erklären, da der erhöhte Grenzwert wohl auch natürliche Ursachen haben kann." Bis zur endgültigen Entscheidung darf der Fahrer weiter an Rennen teilnehmen.
Dies hält die Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport (MPCC) für eine Farce. Deshalb forderte sie die Wada auf, diese Regel zu modifizieren. „Wenn ein Fahrer positiv getestet wird oder unnormale Werte hat, dann muss er vorerst aufhören zu fahren", sagte MPCC-Chef Roger Legeay dem WDR. Die Fans würden nicht mehr verstehen, warum der eine vorläufig gesperrt werde und der andere nicht. Die MPCC ist eine 2007 von Profiteams gegründete Vereinigung, die sich den Kampf für einen sauberen Radsport auf die Fahnen geschrieben hat. Sky gehört dieser Vereinigung nicht an.