Der sogenannte Ennui ist ein Grundübel unserer Zeit
Es scheint, als hätte der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) die Leiden und Forderungen der Gegenwart erkannt. Seit etlichen Wochen strahlt er sein Fernsehprogramm in nicht ganz korrekter Rechtschreibung unter dem Motto „Bloss nicht langweilen!" aus. Augenschein und Wissenschaft belegen zweifelsfrei: Die Langeweile, der Ennui, ist ein Grundübel unserer Zeit.
Schon vor mehr als 150 Jahren hat der in unglücklicher Kindheit aufgewachsene französische Dichter Charles Baudelaire der in den wachsenden Städten der industriellen Revolution zunehmenden Leere und Langeweile einen lyrischen Ausdruck verliehen und seinen Gedichtband „Les Fleurs du Mal" veröffentlicht. Victor Hugo fand das großartig. Die staatlichen Stellen in Frankreich hielten es für anstößig. Heute gelten „Les Fleurs du Mal" als das Fundament moderner europäischer Dichtung und als erstes Dokument der Fadesse und des unüberwindlichen Trübsinns.
Philosophen, Psychologen und Pädagogen haben sich seither neben Dichtern und Schriftstellern mit dem Ennui, seinen Auswirkungen und möglichen Gegenmitteln beschäftigt. Die Gebrüder Grimm haben in ihrem Märchen „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", den Prototyp des Kick-Süchtigen beschrieben, der dem grauen und langweiligen Alltag entfliehen will. Hermann Hesse meinte, alles Dasein sei ohnehin „in Sand geschrieben" und Leben bedeute „einsam sein". Martin Heidegger verglich den Mehltau des Ennui mit einem „schweigenden Nebel", der in die Gleichgültigkeit münde.
Auch Friedrich Nietzsche und Georg Büchner erkannten im Ennui nur Traurigkeit, Kummer, Verzweiflung – kurzum: den sinnlosen Sinn des Nichts. Nur Arthur Schopenhauer blieb unverdrossen. Er war überzeugt, ein großer Geist würde nie vom Ennui befallen, könnte also auch heutzutage weder Burn-out noch Depression erleiden.
Unser Seelenvater Sigmund Freud hatte bereits richtig vermutet, dass Langeweile in einem Konflikt zwischen realen Möglichkeiten und Wünschen wurzelt. Soll heißen: Was der Gelangweilte haben kann, interessiert ihn nicht, und was ihn interessiert, kann er nicht haben. Denn er entwertet die kleinen Schritte, die zum begehrten Ziel führen könnten. Verwöhnte Naturen sind daher besonders gefährdet, Opfer von Langeweile zu werden.
Freilich sind die Grenzen fließend zwischen Ennui, Langeweile und Depression. Sie haben jedoch eine gemeinsame Folge: Sie führen in die soziale Isolation – im schlimmsten Fall in körperliches Leiden und in den Tod. Nicht von ungefähr war die Kernaussage in Baudelaires Gedichtband die Todessehnsucht. Ob hier Fernsehprogramme hilfreich einwirken können, ist eine Frage, die zu diskutieren lohnt. Sind die Massenmedien nicht geradezu ein Segen im Windmühlenkampf gegen die Alltagsleere?
Das Gefühl von Langeweile und Verlassenheit fördert negativen Stress, der das Immunsystem und die Widerstandskräfte des Körpers insgesamt schwächt. Sich täglich mit dem Ennui plagende Menschen erkranken öfter.
Gegenmittel, um dem Ennui vorzubeugen und zu begegnen, gibt es offensichtlich viele. Nur ist ihre Wirksamkeit nicht garantiert. Der große englische Schriftsteller Graham Greene ließ sich einen völlig gesunden Zahn ziehen, um dem Ennui zu entgehen. Ein anderes Mal spielte er aus demselben Grund mit dem Revolver seines Bruders Russisches Roulette. Bloß nicht langweilen!
Peter Bichsel berichtet von seinem eher harmlosen Kampf gegen die Langeweile. Er war als Kind kein guter Fußballspieler. Daher mieden seine Schulkameraden ihn. Also ging er in die Stadtbibliothek, lieh sich dutzendweise Bücher aus und las und las – und wurde so zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Andere wählen bekanntlich andere Mittel und Methoden, wie Extremsportarten vom Fallschirmspringen über Wildwasserkajak und Klippenspringen bis zum Free-Solo-Klettern. Immer ist es letztlich die Bestätigung vor sich selbst und vor anderen.
Ob ein Fernsehprogramm wie das vom rbb dauerhaft den Ennui vertreiben kann, werden viele bezweifeln. Doch der schweigende Nebel könnte sich ab und an auch vor der „Glotze" lichten – nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften.