Uwe Holmer wurde schlagartig bekannt, als er im Winter 1990 den prominentesten Heimatlosen der DDR, Erich und Margot Honecker, Obdach gewährte. Proteste und Drohbriefe waren die Folge. Doch der 88-jährige Pfarrer würde es wieder tun.
Wenn Uwe Holmer die weiten, sanften Hügel der Mecklenburgischen Seenplatte unweit seines Hauses entlangläuft, hält er, oben angekommen, immer wieder inne. Dann scheint es, als stehe er zwischen Himmel und Erde und als reiche der Himmel der Erde seine Hand. So wie er im Januar 1990 dem mächtigsten Paar der DDR die Hand reichte. Zehn Wochen lang wohnten Erich und Margot Honecker unter seinem Dach, damals im brandenburgischen Lobetal bei Bernau. Dort war Uwe Holmer Bürgermeister und Leiter der Hoffnungstaler Anstalten, einer der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. In Lobetal lebten weit über 1.000 Bewohner, vorwiegend Senioren, Menschen mit Lernschwierigkeiten und an Epilepsie erkrankte Menschen. Bereits 1905 wurde die Einrichtung als Unterkunft für Obdachlose gegründet. Der gestürzte Staats- und Parteichef und seine Frau waren nun selbst obdachlos.
Das Wohnrecht in der Funktionärssiedlung Wandlitz hatten sie verloren. In eine ihnen zugewiesene Wohnung in Berlin-Friedrichshain zu ziehen, war aus Furcht vor Racheakten in der Bevölkerung ausgeschlossen. Erich Honecker beauftragte seinen Anwalt Wolfgang Vogel, bei der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg um Asyl zu bitten. Lobetal stand zur Diskussion. Als christliches Dorf bot es einen gewissen Schutz, jedoch waren sowohl alle Heimplätze als auch Personalwohnungen komplett belegt und die Liste der Voranmeldungen war lang. „Honeckers vorzuziehen, hätte erneut Privilegien bedeutet und großen Ärger erzeugt", erinnert sich Uwe Holmer, der sich die Entscheidung, die Honeckers in Lobetal aufzunehmen, nicht leicht gemacht hatte.
„Ich fragte mich dann aber, was ist mit Bodelschwinghs Auftrag, die Würde jedes Einzelnen zu wahren und keinen Obdachlosen abzuweisen? Ich zweifelte, ob wir glaubhaft jeden Sonntag in der vollbesetzten Anstaltskirche ‚Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern‘ weiter beten können. Die Honeckers abzuweisen hätte bedeutet, unseren Glauben zu verraten. Ich dachte, wenn das Alte immer wieder hochkommt, dann prallen die Gegensätze aufeinander. Dann werden die, die uns verachtet haben, von uns verachtet. Das gibt Zank und Streit und kein echtes Miteinander." Schließlich nahm Uwe Holmer das Ehepaar in seinem privaten Wohnhaus auf. Für ihn ein Akt christlicher Ethik. Nichts weiter. Eine Haltung, die zu dieser Zeit der allgemeinen Irritation und Enttäuschung, nicht selbstverständlich war. Im Dezember 1989 leiteten DDR-Staatsanwälte ein Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauch und Hochverrat gegen den 77-jährigen Erich Honecker ein. Der Haftbefehl wurde aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes außer Vollzug gesetzt und das Verfahren eingestellt. „Seine Hauptschuld war, dass er diese harten Methoden der Staatssicherheit und den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze durchgesetzt hat", betont Uwe Holmer. „Das war ein ganz schlimmes, schweres Unrecht. Überhaupt, dass die Verantwortlichen mit diesen drakonischen Maßnahmen Menschen dafür opferten, dass ihre Grenze erhalten bleibt", betont Uwe Holmer ausdrücklich.
Auch seine Familie und die Einrichtung der Hoffnungstaler Anstalten waren, wie viele Gläubige, Schikanen und Bespitzelungen ausgesetzt. Trotz guter und sehr guter Zensuren durften sieben seiner Kinder kein Abitur ablegen, da sie nicht in der FDJ waren und nicht an der Jugendweihe teilnahmen. Uwe Holmer erzählt das sachlich, ohne verbittert zu sein, auch wenn er damals erwartete, dass Honecker noch ein gerechtes Gerichtsverfahren bekommen würde. „Doch das war nicht meine Sache. Meine Sache war: Ich sollte ihm Herberge geben. Und da habe ich das, was von mir aus zwischen uns stand, beiseitegelegt und ihm das nicht unter die Nase gerieben. Ich bin ihm als Mensch begegnet und unser Miteinander war freundlich und ganz normal."
Die Bilder, wie die beiden so verschiedenen Männer am Abend einmal nur kurz um das Pfarrheim liefen, gingen um die Welt. Während der Spaziergänge führten sie Gespräche, oft über persönliche Themen, auch über Honeckers Erlebnisse im Zuchthaus. „Er hat mir gesagt, der Sozialismus wird noch einmal aufleben und gereinigt wiederkommen. Wenn er diese Demonstrationen sah und dieses Brüllen ‚Wir sind froh, dass der Sozialismus weg ist‘, dann sagte er immer, ‚die Leute werden sich noch wundern, der Kapitalismus hat eine Raubtier-Natur‘. Das hat er mehrfach gesagt. Und ich habe für mich gedacht, das ist der Mensch und nicht das System. Wir merkten beide, dass wir vom ideologischen oder religiösen Standpunkt nicht auf einen Nenner kommen, wenngleich ich bei ihm merkte, irgendwie suchte er ein Verständnis für unseren christlichen Glauben. Wir wollten beide nicht das was zwischen uns steht festhalten, sondern abgeben."
Der einstige Staatschef fragte den Gemeindepfarrer oft, was er eigentlich als Pastor für Aufgaben habe. „Ich habe ihm dann geantwortet: Der Sozialismus hat einen Fehler gemacht. ‚Wieso?‘ fragte er erstaunt. Ich habe ihm meine Sicht erklärt: Der Sozialismus hat gemeint, der Mensch ist gut. Nun müssen wir nur noch die Verhältnisse gut machen, die Ausbeutung beseitigen, dann wird alles gut. Es wurde aber nicht gut. Der Mensch ist nämlich ein Egoist. Und deshalb hat Jesus die Herzen verändern wollen. Und das möchte ich auch gern in meiner Arbeit: Die Herzen zum Guten verändern. Da hatte ich den Eindruck, das hat er verstanden."
Doch vor dem Lobetaler Haus des Pastors nahmen die Proteste und Demonstrationen zu. Zehn Wochen lebten die einstigen Kirchengegner bei dem Pastor. Es gab Anfeindungen, Unverständnis und Verdruss. „Die Leute standen an der Straße und am Zaun und haben gebrüllt, geschrien und gedroht, das Pfarrhaus zu stürmen. Einer in der aufgebrachten Menge hat einen Strick gebracht und geschrien: ‚Den Honecker könnt ihr hieran aufhängen.‘" Uwe Holmer fand es verlogen, alle Schuld nun allein auf Honecker zu schieben. Waren doch noch auf dem Festumzug zum 40. Jahrestag der DDR Zehntausende Funktionäre, Arbeiter und Angestellte voller Jubel für Honecker. Jetzt wendeten sich das Blatt und die Stimmung. „Diese Aggression in der wütenden Menge hat Erich Honecker schon sehr mitgenommen, aber er konnte sich auch gut beherrschen. Doch das nun alles kaputt sein sollte, sein ganzes Lebenswerk, das hat ihn sehr bedrückt."
Eine Frau bat Jahre später um Verzeihung
Der Pfarrer ging immer wieder an den Zaun und versuchte, mit den Menschen zu reden. Nur manchmal hatte es was genützt. „Vergebung ist nicht leicht. Das Unrecht ist eine Wirklichkeit", meint der Theologe. „Ein Bürger empörte sich und sagte zu mir: ‚Sie haben kein Recht, dem Honecker zu vergeben. Sie, Herr Pfarrer, haben nichts durchgemacht. Ich aber war eigentlich zum Tode verurteilt. Dann haben sie mich begnadigt zu 15 Jahren Haft. Davon habe ich fünf Jahre in Bautzen abgesessen, bevor ich von der Bundesrepublik freigekauft wurde.‘ Ich habe in sein zorniges Gesicht geschaut. Dieser Mann war wirklich tief verletzt. Ich erklärte ihm, dass ich Honecker nur vergeben habe, was er mir angetan hat. Was er ihm angetan hat, das müsse er ihm selber vergeben. Das war sehr gewagt, das sozusagen, denn der Mann war voller Wut. ‚Und wenn Sie Honecker nicht vergeben, dann frisst Ihre Bitterkeit Sie auf‘, fügte ich hinzu. Der Mann überlegte einen Augenblick und meinte: ‚Sie haben recht, ich muss vergeben, und ich will vergeben.‘ Das hat mich sehr bewegt."
Uwe Holmer holt aus einer Schublade Zeitungsartikel und Stapel von Briefen und Karten hervor. An die 3.000 Briefe erhielt er, mit Bombendrohungen und massiven Beschimpfungen. Einige davon hat er aufgehoben. Jemand schrieb: „Uwe Holmer, Du ehrloses, dreckiges Pastorenschwein, hast den Verbrechern Erich und Margot Honecker Dein Haus aufgemacht." Auf einer Karte hieß es: „Es gibt vier große Verbrecher. Der erste war Hitler, der zweite war Hussein, der dritte Honecker, der vierte Holmer."
Damit musste der Theologe leben. Es gab aber auch fürsprechende Briefe. Einen erhielt er zehn Jahre nach der politischen Wende von einer Frau. Sie schickte eine Kopie von ihrem ersten Brief mit, in dem sie sich damals über den Anstaltsleiter empörte, „‚dass die Kirche Honecker aufnimmt, der uns das Leben so schwer gemacht hat. Ich habe für Lobetal gespendet, Pakete geschickt mit Kleidung für Ihre Leute, aber das ist vorbei. Lobetal ist für mich erledigt.‘ Und nach zehn Jahren wendete sie sich noch einmal an uns und schrieb: „Ich bitte Sie unter Tränen, verzeihen Sie mir. Das war doch richtig, was Sie gemacht haben.‘"
Einige Jahre nach der Wende zog Uwe Holmer zurück in seine Heimat nach Mecklenburg, in Serrahn am Krakauer See. Er liebt die Wälder, das Ackerland und den Himmel, hinter dem sich die Wolken immer wieder neu formieren und vorüberziehen. In seinem kleinen Dorf half er einem Freund, eine Rehaklinik für Suchtkranke aufzubauen, engagierte sich bei der Betreuung Alkohol- und Suchtkranker und hält heute noch ab und an eine Predigt in der Kirche. Themen von Schuld und Vergebung bleiben aktuelle Zeitfragen. „Ich glaube, es gibt kein Zusammenleben, ohne dass man an dem anderen schuldig wird. Das beginnt schon in der Familie zwischen Eheleuten oder Eltern und Kindern. Es ist einer der Hauptschäden, wenn sich Erwachsene dann nicht vergeben wollen, nicht vergeben können und das immer wieder nachtragen. Das macht das Leben so schwer. Es gibt Feindschaften, die über Generationen währen, wo einer dem anderen vorhält, was er damals gesagt und getan hat." Uwe Holmer macht bei sich keine Ausnahme. Auch er bat um Vergebung vor Gott. „Ich wurde immer wieder mal schuldig an diesem und jenem Mitarbeiter oder auch in der Familie. Seitdem ich um Vergebung bat, kann ich mich auch mit anderen Menschen besser versöhnen. Ich kann damit Unrecht nicht aus der Welt schaffen, ich kann es nur beiseite stellen und sagen: Ich gebe Dir trotzdem die Hand. Diese Versöhnung bringt Freude und Frieden, macht das Leben wertvoll und schön. Wir sind heute ein äußerlich reiches Volk, aber innerlich arm an Liebe, Fürsorge, Barmherzigkeit."
Und wenn Uwe Holmer, der ein Stück deutscher Geschichte mitgeschrieben hat, sagt, Vergebung gehöre zu den wichtigsten Dingen im Leben, nimmt man ihm das ab.