Der märchenhafte Aufstieg von Union Berlin hat ein neues Kapitel erreicht. Nach sechs Spieltagen thront der Club an der Spitze der Fußball-Bundesliga. Es muss kein einmaliges Vergnügen sein.
Oliver Ruhnert liebt das Understatement, doch an diesem Samstagabend hatte er es schwer damit. Der Sport-Geschäftsführer von Union Berlin war zu Gast im „Aktuellen Sportstudio" des ZDF – wenige Stunden, nachdem sowohl der FC Bayern München als auch Borussia Dortmund in der Fußball-Bundesliga ihr Spiel jeweils nicht gewinnen konnten. Und so wurde Ruhnert von Moderator Sven Voss mit der Frage begrüßt, ob er denn bereits ein Fass aufgemacht oder sich langsam an die Chance gewöhnt habe, neuer Tabellenführer werden zu können. Dem Union-Manager war deutlich anzumerken, dass ihm die Frage nicht behagte. Der Sauerländer neigt in solchen Situationen dazu, noch verschachtelter zu reden als ohnehin.
„Die Tabellenkonstellation ist so, dass es sein kann, dass man möglicherweise einen neuen Tabellenführer hat", sagte Ruhnert ausweichend. „Von daher: alles gut. Wir wissen, wo wir herkommen und wie wir letztlich die Spiele bestreiten müssen, um erfolgreich zu sein." Während des Gesprächs über Unions märchenhaften Aufstieg von einem Zweitligisten zu einem Europacup-Starter und andere Themen sprach Voss das Thema Tabellenführung noch mal an. „Erwähnen Sie das nicht immer, das macht mich nervös", gab Ruhnert lächelnd zu.
Seine Mannschaft machte die Aussicht auf Platz eins dagegen überhaupt nicht nervös. Beim 1:0-Auswärtssieg beim 1. FC Köln präsentierte sich Union wie ein absolutes Spitzenteam. „Ich habe lange keine Mannschaft so gut hier spielen sehen wie Union", sagte FC-Trainer Steffen Baumgart anerkennend. Weil der SC Freiburg im Anschluss gegen Borussia Mönchengladbach nur torlos spielte, war die Sensation perfekt: Union Berlin thront als 34. Tabellenführer der Bundesliga-Geschichte an der Spitze. Und das muss keine einmalige Nummer sein, mit einem Sieg am Sonntag (18. September/15.30 Uhr) gegen den VfL Wolfsburg hätte der Club Platz eins für mindestens zwei weitere Wochen sicher, weil im Anschluss die Länderspielpause folgt. Via Twitter ließ der Club verlauten: „Es kommen wieder andere Zeiten, aber lasst uns den Moment genießen."
Für Timo Baumgartl war das Spiel in Köln auch aus persönlicher Sicht ein großer Erfolg. Er stand erstmals seit seiner Hodenkrebs-Erkrankung mit anschließender Chemotherapie wieder im Kader von Union. Zum Einsatz kam der Innenverteidiger 145 Tage nach seinem letzten Spiel zwar nicht, aber der erste Schritt zurück in die Bundesliga ist gemacht. „Das ist natürlich großartig", sagte Ruhnert über Baumgartls Nominierung, die sich dieser redlich verdient habe: „Er hat sich unglaublich reingehängt und wollte mit aller Macht dahin." Er habe das Gefühl, „dass es jetzt gut ist, dass Timo bei sich ist". Für den offenen Umgang mit seiner Krankheit zollte Ruhnert dem Profi größten Respekt: „Hochachtung für den Weg, den er da gemacht hat."
Hochachtung haben auch die Ligarivalen für den sportlichen Weg von Union: Aufstieg, Klassenerhalt, Conference League, Europa League. Er fühle sich „wie im Märchen", aus dem er „nicht aufwachen" wolle, sagte Ruhnert. Die Champions League, die vor wenigen Jahren noch absurd weit weg war, ist für Union plötzlich greifbar. Manche meinen gar, es sei der nächste logische Schritt. Diese Menschen ernten von Ruhnert aber ein kritisches Stirnrunzeln. „Träumen darf man ja immer", sagte er im „Sportstudio", „aber logisch planen kann man das nicht." Sein Chef, der Clubpräsident Dirk Zingler, hatte das Gerede von der Königsklasse jüngst als „Hirngespinst" abgetan und gewarnt: „Wenn wir anfangen zu spinnen, wird unser erfolgreicher Weg schnell zu Ende gehen."
Aber was genau zeichnet diesen erfolgreichen Weg bei Union aus? Ruhnert nennt Kontinuität als einen Hauptgrund. „Zumindest scheint es so, dass Kontinuität nicht der schlechteste Weg ist", sagte er.
Bei den Köpenickern würden Trainer, Management und Vereinsführung über viele Jahre zusammenarbeiten, „was mitverantwortlich dafür ist, etwas Gutes zu entwickeln". Umso wichtiger wäre es, in den Vertragsverhandlungen mit Trainer Urs Fischer endlich ein positives Ergebnis zu finden. „Beide Seiten sollten das anstreben", meinte Ruhnert: „Manchmal passen Trainer ideal zu ihren Clubs, und in dem Fall ist es sicher so, dass Urs Fischer ideal zu Union Berlin passt."
Europa-Pleite schmerzt
Wenn sich der Schweizer, der seit seiner Ankunft im Sommer 2018 großen Anteil am Aufstieg und den Erfolgen in der Bundesliga hat, zum Verbleib entscheidet, kann es ganz schnell gehen. „Bei uns läuft das so", verriet Ruhnert: „Der Manager und der Trainer gehen zum Präsidenten, dann gibt es einen Handschlag – und dann wird verlängert." Was aber ist, falls Fischer im kommenden Sommer, wenn sein Vertrag endet, eine neue Herausforderung annehmen möchte? Ruhnert glaubt, dass dafür schon ein absoluter Topclub anklopfen müsste. „Genau wie bei Christian Streich in Freiburg müsste so etwas außergewöhnliches passieren, dass er gehen würde", sagte der Manager, der selbst seinen auslaufenden Vertrag noch nicht verlängert hat. Vieles deutet aber darauf hin, dass das Duo Fischer/Ruhnert auch in Zukunft das sportliche Sagen bei Union Berlin haben wird. „Ich kann’s mir auch vorstellen", sagte Fischer über seinen möglichen Verbleib: „Was ich sagen kann: Wir befinden uns in Gesprächen. Schauen wir mal."
Ein zweiter Erfolgsfaktor neben der Kontinuität sei die Flexibilität auf dem Transfermarkt, verriet Ruhnert. „Wir haben immer einen Plan B, und den mussten wir in den letzten Jahren auch haben", sagte er. Abgänge wie die von Robert Andrich, Max Kruse, Marvin Friedrich oder vor der Saison Taiwo Awoniyi hätten zwar wehgetan, „haben uns wirtschaftlich aber auch durch eine schwere Corona-Zeit geholfen".
Dass die vielen Neuzugänge, die Jahr für Jahr verpflichtet werden müssen, oft schnell und problemlos integriert werden, läge vor allem am Trainerteam und Führungsspielern wie Kapitän Christopher Trimmel: „Wir haben eine Mannschaft, die top funktioniert." Ruhnert nennt zudem die Fans und die besondere Atmosphäre im Heimstadion als einen wichtigen Grund für Unions Höhenflug. „Alle, die dorthin kommen, sagen, es ist außergewöhnlich", verriet Ruhnert. Er selbst denkt genauso: „Wenn du in der Alten Försterei bist, wenn du die Menschen siehst, wie dankbar sie sind und diese Zeit genießen nach langen Jahren der Entbehrungen, wie stolz sie sind, der jüngste Club in der Bundesliga zu sein – das ist außergewöhnlich."
Umso bitterer war es, dass Union das erste Europapokal-Heimspiel im Stadion an der Alten Försterei verlor. Das 0:1 zum Auftakt der Europa League gegen Royale Union Saint-Gilloise aus Belgien war ein heftiger Stimmungsdämpfer. „In der Summe war es von fast allem zu wenig", gab Mittelfeldspieler Rani Khedira hinterher zu. In jenem Spiel hätte Union die Kreativität eines Max Kruse gut gebrauchen können. „Das ist so ein Zocker, der kann Dinge, die werden andere auch nicht können, wenn sie noch zehn Jahre trainieren", sagte Ruhnert über den Ex-Unioner.
Sorgen, dass Kruse diese Qualitäten am Samstag gegen seinen Ex-Club anwendet, muss niemand haben: Der exzentrische Torjäger, der im vergangenen Winter zum VfL gewechselt war, steht bei Wolfsburgs Trainer Niko Kovac auf dem Abstellgleis.