Juventus Turin war neun Jahre in Folge Meister in der italienischen Serie A und Stammgast in der K.-o.-Runde der Champions League. Mittlerweile steckt die Alte Dame in einer handfesten Krise.
Seit Einführung der Champions-League-Reform zur Saison 2003/04 (ohne zweite Gruppenphase) ist Juventus Stammgast in der K.-o.-Runde. Von 20 möglichen Sprüngen ins Achtelfinale hat der italienische Rekordmeister 13-mal die Runde der letzten 16 erreicht – zweimal unter dem aktuell auch wieder im Amt befindlichen Trainer Massimiliano Allegri sogar das Finale (Niederlagen gegen Barcelona 2015 und Real Madrid 2017). Kurzum: Auch wenn der in diesem Wettkampfformat erst zweimal triumphierende Club aus Turin (Titel 1984/85 und 1995/96) seit langer Zeit auf den ganz großen Coup wartet, so hat Juve doch immer wieder ihre Spuren auf der Bühne der Königsklasse hinterlassen. Nicht aber in der jüngeren Vergangenheit: Im Corona-Jahr 2020 hat es beim Entscheidungsspiel gegen Lyon ein 0:1 gesetzt, 2020/21 ist das Aus bereits im Achtelfinale gegen Außenseiter Porto erfolgt (1:2 und 3:2 nach Verlängerung), ehe auch 2022/23 gegen einen vermeintlichen Underdog die Überraschung passiert ist (1:1 und 0:3 gegen den FC Villarreal). Den Gau hat es aber in diesem Jahr gegeben: Mit extrem mageren drei Punkten aus sechs Spielen und einem Torverhältnis von 9:13 haben die Turiner in der Gruppe H nur den dritten Platz erreicht – oder besser: gerade noch den dritten Platz erreicht. Denn nur weil der krasse Außenseiter Maccabi Haifa (ebenfalls drei Zähler) am vierten Spieltag beim vollends verdienten Sieg über Turin nur ein 2:0 erreicht oder so den direkten Vergleich nicht für sich entschieden hat (1:3 im Hinspiel), darf Juventus wenigstens in der Europa League überwintern. Der aktuelle Kader der Bianconeri, ohnehin seit Wochen in der Krise und auch in der heimischen Serie A weit hinter der eigenen Erwartungshaltung zurück, lässt mit dem Absturz in die EL fast zehn Jahre alte Geschichte wiederholen. 2013/14, als noch Erfolgstrainer Antonio Conte die Geschicke der Alten Dame geleitet hat, ist Juventus in der CL-Gruppe letztmals Dritter geworden – hinter Real und Galatasaray. Das damalige Abschneiden: klares Weiterkommen im Sechzehntelfinale gegen Trabzonspor, die knapp behaltene Oberhand beim Achtelfinalvergleich mit dem wenig beachteten Rivalen aus Florenz und der Einzug ins Halbfinale gegen Lyon. Ins Finale ist es damals aber nicht gegangen, weil sich die Legenden Gianluigi Buffon, Andrea Pirlo, Giorgio Chiellini oder auch Topakteure wie der noch immer für Juventus aktive Leonardo Bonucci, Paul Pogba, Arturo Vidal und Carlos Tevez vom später gegen den FC Sevilla unterlegenen Club Benfica Lissabon die Butter vom Brot noch haben nehmen lassen.
Davon sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, ist Juve derzeit weit entfernt – weder Butter noch Brot sind in den vergangenen Wochen vorhanden. Das bringt wahrscheinlich personelle Veränderungen mit sich. Präsident Andrea Agnelli könnte bei der Alten Dame laut „Tuttomercatoweb“ das Ruder abgeben und durch Alessandro Nasi ersetzt werden. Nasi ist Vize-Boss von Juve-Eigentümer Exor. Er soll offenbar frischen Wind in die Führungsetage bringen. Auch in der sportlichen Leitung planen die Bianconeri angeblich Veränderungen. Vize-Präsident Pavel Nedved soll weitere sportliche Expertise an die Seite gestellt werden.
Aus der Fußball-Elite verabschiedet
Im Kreuzfeuer befindet sich nun auch Allegri. Kritische Töne kamen von weiteren Club-Legenden. Der frühere Spieler und Coach Fabio Capello beispielsweise beschrieb die Probleme sehr deutlich: „Uns fehlten Charakter und Entschlossenheit. Die Mannschaft hat immer unterdurchschnittlich gespielt“, wurde der 76-Jährige von „Tuttosport“ zitiert. Dem aktuellen Juve-Trainer Allegri fehlen aus seiner Sicht „die Spieler, auf die er diese Mannschaft gegründet hatte, die keinen Charakter und keine Entschlossenheit zeigte“. Capello weiter: „Auch wenn er diese Spieler nicht hat, muss er immer zeigen, was Juve ist: eine Mannschaft, die nie aufgibt, die den Willen hat zu kämpfen, und das haben wir heute Abend nicht gesehen, wie in den letzten Spielen.“ Die italienische Presse gab derweil vor allem dem Trainer die Schuld für das aktuelle Abschneiden. „Juve gedemütigt, alles Allegris Fehler: Er bleibt unter Vertrag, aber das Schicksal ist besiegelt“, kommentierte beispielsweise die „Gazzetta dello Sport“: „Ohne Seele sind die Bianconeri schon im Oktober gescheitert.“ Die italienische Sportzeitung „Tuttosport“ bezeichnete das Königsklassen-Aus als „Desaster“. Weiter schrieb die Zeitung, dass sich Juve von der Fußball-Elite verabschiedet habe. „Und genau dieser Trainer, der sie in der Vergangenheit trotz allem und jedem dem Paradies einen Schritt nähergebracht hatte, stürzt sie nun in den Abgrund und schreibt eine der deprimierendsten Seiten der Juventus-Geschichte.“ Und dann stellte die Zeitung noch auf der Titelseite die Frage: „Wer zahlt den Schaden?“ Ein mögliches Aus von Allegri scheint zumindest eine Option zu sein.
Agnelli, der vielleicht ersetzt werden soll, ist mit einer der größten Krisen von Juventus Turin konfrontiert – in Deckung geht er dabei aber nicht – und schützt den Trainer. „Ich schäme mich“, sagte er nach dem CL-Aus: „Ich bin extrem wütend.“ Viele, die es mit Juventus gut meinen, wollten von ihm eigentlich hören, dass er Trainer Massimiliano Allegri für die Misere verantwortlich macht und ihn für diese Erfolglosigkeit entlässt. Aber Agnelli denkt nicht daran: „Ich weiß, dass Fußball ein Mannschaftssport ist. Man gewinnt und verliert mit elf. Eine Situation wie diese hängt nicht von einer Person ab. Es kommt auf das Kollektiv an, und wir müssen wieder anfangen, als Einheit zu denken.“ Es ehrt Agnelli, dass er und das Gremium um ihn herum nicht nur bei Allegri keinen kurzfristigen Aktionismus betreiben, ohne zu wissen, ob es überhaupt was bringen würde. Und es bedeutet eine gewisse Konstanz in den Handlungen, denn seit Andrea Agnelli Chef bei Juventus ist, gab es noch nie eine Trainerentlassung während der Saison. Weder Luigi Delneri, der erste Coach in der Andrea-Agnelli-Ära, musste gehen, obwohl klar war, dass die Saison so endet, wie sie endete – nämlich mit Platz sieben. Noch mussten Maurizio Sarri oder Andrea Pirlo gehen, obwohl es auch bei ihnen nicht stimmte. Dass Sarri Meister wurde, sollte dennoch erwähnt werden, aber es passte chemisch nicht zusammen. Warum also bei Allegri anfangen? Die italienischen Medien schießen sich zwar auf ihn ein und bringen die heute typischen Vorwürfe, wie, dass er die Mannschaft verloren habe. Aber vielmehr ist es so, dass sich die Mannschaft selbst verloren hat. Juventus-Mannschaften hatten schon immer eine klare Struktur. Ein sehr guter Torhüter, noch bessere Innenverteidiger (früher auch mal Libero), Balancespieler im Zentrum und vorne immer ein fähiger Stürmer – mindestens einer. Heute wirkt Juventus wie ein zusammengewürfelter Haufen, den so schnell kein Trainer so zusammenbasteln kann, dass es auf Anhieb funktioniert. Und genau da darf man wieder über Andrea Agnelli reden, denn der Zustand der Mannschaft hat auch viel mit seiner Person zu tun. Als Juventus ab 2012 einfach jeden Meistertitel in der Serie A holte, in der Champions League zweimal im Finale stand, dachte Agnelli, dass das zwar schön ist, aber nicht reicht. Er wollte nicht nur das CL-Finale spielen, er wollte es auch gewinnen. 2018 holte er dann Cristiano Ronaldo, um dieses Ziel zu erreichen. Keine Frage, kein Mensch der Welt braucht sich dafür zu entschuldigen, einen der besten Fußballer der Welt in sehr gutem Fußball-Alter von Real Madrid zu holen. Aber der Transfer hat mit Juventus etwas angestellt. Über 101 Tore in 134 Spielen muss man nicht großartig diskutieren, Ronaldo war als Einzelner sehr erfolgreich bei Juventus. Aber in diese Phase fallen auch Abgänge wie João Cancelo, der heute einer der besten Außenverteidiger Europas ist. Juventus musste sich Budget freischaufeln und kam zur Erkenntnis, dass man fähige Spieler abgeben könnte. Ronaldo riss ein finanzielles Loch in das jahrelang penibel durchgeplante Konstrukt. Als Juventus auf die Idee kam, Ronaldo wieder zu verkaufen, war es keine gute Idee mehr, weil Ronaldo sportlich dann nicht mehr zu ersetzen war und die Mannschaft inzwischen eine Entwicklung nahm, die vom Portugiesen abhängig schien. Nicht gut, wenn es den Spieler eigentlich schon wieder wegzieht und die Alternative im ersten Moment nur Moise Kean heißt.
Ronaldo weg, Alternativen fehlen
Etliche Versuche später, die Mannschaft zu verstärken und einen Gesamtimpuls zu geben, versagten, weil die Balance nicht mehr stimmte. Weder finanziell noch sportlich. Sicherlich hat auch Allegri noch keinen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass zumindest ein Kern zusammenwächst und die Alte Dame zumindest wieder einigermaßen salonfähig ist, kann man ankreiden. Aber Allegri ist nicht das Problem und seine Demission wäre auch keine Lösung. Schon einmal stand Allegri vor dem Rauswurf – es war die Saison 2015/16 –, als Juventus Ende Oktober in Sassuolo verlor und auf Platz zwölf abrutschte. Agnelli hörte auch damals nicht auf die Forderungen, Allegri zu entlassen und wurde dafür belohnt: Juventus triumphierte im Turiner Derby, der Siegtreffer fiel mit dem Hintern von Juan Cuadrado in der 93. Minute und es war der Beginn einer 15 Spiele andauernden Siegesserie, die mit dem Titelgewinn endete. Ob es diesmal so kommt? Wenige Fans glauben daran.