Jedes Jahr im August präsentiert sich Berlin als „Hauptstadt des internationalen Orchesternachwuchses". Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt ist bei „Young Euro Classic" rund drei Wochen lang Bühne für Jugendorchester aus aller Welt.
Die Musiker in dem russisch-deutschen Orchester verstanden sich prächtig. In den Proben hielten sich die russischen Streicher bei Schumann etwas zurück und überließen den deutschen die Führung. Bei Tschaikowski legten sich hingegen die russischen Musiker ins Zeug, und die Deutschen ließen ihnen den Vortritt. Aber bei dem, was eine Komponistin im Auftrag des Festivals „Young Euro Classic" abgeliefert hatte, waren alle ratlos, auch der Dirigent.
„Verstehst Du diese Musik?", fragte einer den anderen. Bis Dieter Rexroth, der künstlerische Leiter des Festivals, die Komponistin selbst herbei zitierte. Sie stellte sich vor das Orchester und erklärte mit Händen und Füßen die ungewöhnliche Notengebung und die Idee zu ihrer Komposition. Und siehe da, es gab keine nationalen Grüppchen mehr, alle stürzten sich mit Feuereifer gemeinsam auf die Noten – das Orchester war zu einer Einheit geworden.
Das ist nur eine der vielen Anekdoten, die Dieter Rexroth erzählen kann. Seit 19 Jahren ist er der künstlerische Leiter von „Young Euro Classic", hat die Veranstaltungsreihe mit aus der Taufe gehoben. „Anfangs hat uns keiner geglaubt, dass wir so etwas hinbekommen", sagt er. „Hinter der Idee stand ein Freundeskreis aus Politikern, Rechtsanwälten, Künstlern, Rundfunkjournalisten. Wir wollten für das Jahr 2000 etwas Besonderes auf die Beine stellen – und da sind wir auf ein großes von der EU finanziertes Festival mit Jugendorchestern gekommen. Daran sollten sämtliche EU-Länder teilnehmen."
Geburtsstunde im Milleniums-Jahr 2000
Die Reaktion in den Kulturkreisen sei sehr zurückhaltend gewesen, sagt Rexroth. Ein Festival mitten im Sommer? Das könne doch nur ein Flop werden – und dann nur mit Jugendlichen. Wer interessiere sich denn dafür, wo in Berlin doch die Philharmoniker residierten? Doch als Unternehmensberaterin und Kulturmanagerin Gabriele Minz die Sache in die Hand nahm und dem Festival eine klare Struktur gab, ging es auf einmal doch. Bis heute ist ihre Agentur für die Öffentlichkeitsarbeit des Festivals tätig, hatte auch für den Kontakt zu zahlungskräftigen Sponsoren wie BMW und Würth gesorgt. „Damals war Berlin gerade Bundeshauptstadt und Sitz der Regierung geworden", erinnert sich Dieter Rexroth. „Da kam so ein Prestigeprojekt genau richtig."
Bei der ersten Ausgabe musizierten Jugendorchester aus zwölf EU-Staaten – Publikum und Medien waren begeistert. „Natürlich machten wir weiter", sagt Rexroth. „Wir benötigten dazu allerdings ein tragendes Konzept, ein unverwechselbares Image und zuverlässige Geldgeber." All das wurde erreicht – die EU blieb dabei, und statt der Großsponsoren spenden heute viele kleine Firmen, aber auch Privatleute. Und Berlin präsentiert sich mittlerweile auch als „Hauptstadt des internationalen Orchesternachwuchses", wirbt mit dem Slogan „Die jungen Wilden". Der Wiedererkennungseffekt sei zwar wichtig, meint der künstlerische Leiter. Dennoch müsse man auch immer wieder Neues bieten, sonst werde es langweilig. Das aber wurde es nie: War die Orchesterauswahl anfangs auf die EU zugeschnitten, so erweiterte sich der Kreis im Laufe der 2000er Jahre schnell Richtung Osten. Die baltischen Länder kamen hinzu, Tschechien, Rumänien, Ungarn, Ukraine, Russland und Aserbaidschan. Zudem stellten die Organisatoren auch Orchester aus verschiedenen Nationen zusammen; mal ein „Balkan-Orchester" mit jungen Musikern aus dem Kosovo, aus Serbien, Bosnien und Kroatien, mal ein „Young Euro Classic Berlin-Istanbul Orchester", dann wieder ein Ensemble aus chinesischen und deutschen Musikern. Oder sie luden multinationale Ensembles ein, wie das „Youth Orchestra of the Americas" oder das „Arab Youth Philharmonic Orchestra".
Bei der diesjährigen Ausgabe gehört das Eröffnungskonzert dem „Miagi"-Orchester aus Südafrika, geleitet vom stimmgewaltigen Tenor Richard Brooks. Er lebte über 20 Jahre in Österreich, bis er merkte, dass sein Platz in seiner südafrikanischen Heimat ist. Im Repertoire hat das Orchester traditionelle afrikanische Gesänge, swingenden Township-Jazz und klassische Musik.
Dass junge Leute unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zusammen Musik machen, ist auch in Südafrika alles andere als selbstverständlich. Doch nichts bringe Menschen „enger und natürlicher zusammen als Musik" – davon ist Dirigent Brooks überzeugt: „Wir sind die Keimzelle einer neuen Nation." Beim Eröffnungskonzert spielt das „Miagi" Bruckner, Beethoven und Strawinski aber auch die Suite „Rainbow Beats" zu Ehren des 100. Geburtstags von Nelson Mandela. Das Abschlusskonzert bestreitet das „Schleswig-Holstein Festival Orchester" ebenfalls mit einer Hommage – diesmal zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, von dem drei Orchesterwerke zu hören sein werden.
„Bei der Musikauswahl sollte immer ein klassisches Orchesterstück dabei sein", betont Rexroth. „Warum? Ein Jugendorchester will lernen, Bruckner zu spielen, diese Erfahrung trägt einen Bläser ein Leben lang. Junge Musiker wollen und müssen sich an den Repertoirestücken, die für andere längst bekannt sind, beweisen. Ein englisches Orchester hatte bei einer Festivalausgabe geplant, ausschließlich zeitgenössische Werke von Komponistinnen aufzuführen – das aber war so nicht in unserem Sinne." Für die meisten Jugendorchester gehörten Bruckner, Brahms, Beethoven, Mahler ebenso zu Deutschland und Europa wie Mercedes oder BMW – hochwertige Exportartikel, die jeder schätzt, meint Dieter Rexroth. Der Ausgangspunkt der klassischen Musik sei nun einmal Europa und das Orchester ein Produkt der Aufklärung. „Es wuchs parallel zur Entwicklung der Demokratie, zur freien Gesellschaft. Ein Zusammenspiel kann nur funktionieren, wenn alle gleichberechtigt sind und alle mitwirken können. Das ist das Politische an unserem Festival – wir wollen, dass sich die Idee des Orchesters und seiner Entstehung verbreitet und in die Gesellschaft hineinwirkt."
Natürlich werden nicht nur klassische Werke aufgeführt, die „Georgian Sinfonietta" zum Beispiel gastiert am 17. August mit „Divine Geometry" – hier trifft Klassik auf Elektro. Das Bundesjugendballett zeigt Stücke junger Nachwuchschoreografen zu Rock, Klassik und Pop. Seit einigen Jahren hat mit dem Posaunisten Nils Landgren auch der Jazz seinen Platz. Diesmal tritt außerdem das „National Youth Orchestra of the USA" (NYO) mit der Jazzsängerin Diane Reeves auf und bringt den Sound der amerikanischen Big Bands mit.
Bei der Auswahl der Orchester spielt die jeweilige Musikkultur eines Landes eine entscheidende Rolle. In Frankreich beispielsweise gibt es mehrere Hochschulen für Musik. Aus ihnen entsteht das nationale Jugendorchester. In Sarajevo oder in Belgrad gibt es jeweils nur ein Konservatorium, das ein Orchester nach Berlin entsendet. Aus den USA kommen am häufigsten die Studenten der renommierten New Yorker Juilliard-School, die deutlich älter sind als etwa die Teilnehmer aus Deutschland. „Das Bundesjugendorchester geht aus dem Schülerwettbewerb Jugend musiziert hervor", sagt Rexroth. „Von denen studiert noch keiner, während die Amerikaner bereits kurz vor dem Examen stehen."
Musikalischen Nachwuchs aus der ganzen Welt erleben, dazu den Kontrast zwischen bekannten Werken und Uraufführungen – das alles in der besonderen Atmosphäre des Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Längst hat die Veranstaltungsreihe eine vielschichtig zusammengesetzte Fangemeinde. Die Konzerte haben eine Auslastung von bis zu 97 Prozent, sicherlich auch wegen der immer noch moderaten Preise. So kämen auch viele, für die ein Besuch der Philharmonie vielleicht zu teuer wäre, sagt Festivalorganisator Rexroth.
Der freut sich schon jetzt wieder auf Gänsehautmomente, wenn junge Orchester mit Enthusiasmus, Kraft und Spielfreude Werke alter Meister zum Klingen bringen.