Gehen, im eigenen Rhythmus, übers flache Land, auf windumtoste Gipfel: Für die Maler der Romantik war die Reise zu Fuß zugleich eine Reise ins Ich. Die Alte Nationalgalerie Berlin zeigt weltberühmte Bilder über die „Wanderlust".
Viel Blau, Weiß, die Schrift in Rot: Die Farben des Einladungsplakats zur Ausstellung „Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir" in der Alten Nationalgalerie erinnern an ein schickes Werbeprospekt für eine Landpartie. Fehlen nur die Schweizer Schokolade im Rucksack und eine ordentliche Vesper für unterwegs. Doch für den Hunger ist die Schau nicht gedacht; satt sehen sollen sich die Augen.
Wandern – bis dahin eher eine Pflicht für Müllergesellen – wird im späten 18. Jahrhundert zunehmend von Künstlern entdeckt, die es aus den Salons ins Freie zog. Das zeigt diese Sommerausstellung mit 120 Bildern, von den Romantikern bis zu Paul Gaugin. Sie alle verband die Leidenschaft, zu Fuß unterwegs zu sein.
So unterschiedlich wie die Maler sind auch ihre Landschaftsdarstellungen – facettenreich zeigen sie mal die Idylle im Sehnsuchtsland Italien, mal die seelische Erschütterung durch dramatische Bergmassive. Entsprechend gliedert sich die Schau in verschiedene Räume. Deren Themen lauten etwa „Entdeckung der Natur", „Künstlerwanderung" oder – auch der kurze Weg erhält seinen Raum – „Spaziergänge". Aus der Entdeckung der Natur, sowohl wissenschaftlich als auch als Kunstobjekt, geht die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts hervor. Botanik und Geologie entwickeln sich im 18. Jahrhundert zu eigenen Forschungsbereichen. Berichte von Alexander von Humboldts Expeditionen inspirierten nicht nur das geneigte lesende Publikum, sondern auch die Maler: Friedrich Georg Weitsch hielt Humboldt in einer idealisierten Ansicht des Dschungels beim Botanisieren fest.
Gemalte Sicht aufs Gehen und Erkunden
Aber nicht nur in unbekannten Ländern, auch in Europa gab es Anregungen genug. Beherzte Reisende wie Fürst Leopold III. von Anhalt-Dessau bestiegen etwa den Vesuv und ließen sich von seiner Urgewalt verzaubern – fast zeitgleich mit Jakob Philipp Hackerts Bild vom „Vesuvausbruch im Jahre 1774". Der Fürst war so beeindruckt vom Naturschauspiel des Vulkans, dass er einen künstlichen Felsen im See seines Wörlitzer Schlossparks anlegen ließ. Selten genug explodiert der fürstliche Vesuv-Nachbau auch heute noch zur Gaudi der Gäste – spektakulär mit einem Feuerwerk und dazu gehörigem tiefen Rumpeln.
Die Geisteswissenschaften beschäftigten sich im späten 18. Jahrhundert ebenfalls mit dem Phänomen Natur. Sie bereiteten dem Wandern philosophisch den Weg. Der Beschleunigung durch Dampfmaschinen und der rasanter werdenden Mobilität setzten die Philosophen die menschliche Geschwindigkeit des Zu-Fuß-Gehens entgegen. Sie wandten sich zivilisationsmüde von Städten ab und hin zur Natur. Für Immanuel Kant (1724–1804) galt die wilde Natur als ästhetische Kategorie des Erhabenen, auch wenn er das beschauliche Königsberg nie verließ. Erhaben und zugleich erschütternd erscheint das Gemälde „Das Felsentor" von Karl Friedrich Schinkel, 1818 entstanden: Vor einer Grotte entfaltet sich eine atemberaubende Berglandschaft mit Tälern und Schluchten. Spielzeugklein wirken da die Wanderer mit einem Maultier.
Jean Jacques Rousseau (1712–1778) hingegen sah in der Natur den edlen Gegenpol zu einer unmoralischen menschlichen Gesellschaft. „Es ging Rousseau darum, im Namen der freien Natur dem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus entgegenzutreten, der sich schon zu seiner Zeit mit den aufsteigenden Wissenschaften und Technologien verband", beschreibt es die Kieler Philosophin Astrid von der Lühe. So bereitete der Schweizer dem Bedürfnis den Boden, sich in der Landschaft zweckfrei zu bewegen, sie zu genießen – und auch ihre Unbilden wie Regen, Schnee und Kälte zu erfahren. Gerade so wie die beiden Wanderer, die in Jean Bruno Gassies’ Gemälde „Schottische Landschaft" von 1826 Sturm und Regen trotzen.
Wandern als Symbol für die Reise durchs Leben
Künstler als Avantgarde der Trends nahmen diese neue Strömung begeistert auf und zogen los in die Weite. Sie drückten mit ihren malerischen Mitteln aus, was sie auf der Wanderschaft erlebten, erkannten und erlitten. Und waren damit en vogue: „Das Wandern avancierte um 1800 zum Ausdruck eines modernen Lebensgefühls", bestätigt Ralph Gleis, Leiter der Alten Nationalgalerie, im Katalog zur Ausstellung.
Jede Wanderung symbolisiert die Reise durchs Leben – eine durchaus romantische Vorstellung, die sich natürlich auch im Bild wiederfindet. Als eine Ikone für die Lebensreise gilt Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer", entstanden um 1817. Auf einem Felsen steht ein Wanderer vor einer Berglandschaft – mit ihren plateauartigen Felsen erinnert sie an das Elbsandsteingebirge. Im Tal ballen sich Wolken zusammen, über dem Kopf des Mannes klart es auf, ein Sturm scheint abzuziehen; einzelne Felskuppen und Bäume werden sichtbar. Ruhe kehrt ein. Hat der Wanderer nach inneren Kämpfen zu Klarheit gefunden und kann sich nun einem höheren Ziel zuwenden, den kleinteiligen Alltag hinter sich lassen?
Das Gemälde hängt im Caspar-David-Friedrich-Saal der Alten Nationalgalerie, der Teil der Ausstellung ist. Auch der „Mönch am Meer" ist hier zu sehen und erscheint wie ein Gegenpol zum „Nebelmeer". Der Maler selbst schreibt in einem Brief darüber: „Und sännest Du vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen das unerforschliche Jenseits".
In der fernöstlichen Weisheitslehre Daoismus spielt der Weg (Dao), der zum Ziel wird, schon immer eine große Rolle. Dieses hohe Ansehen des Wanderns, Schreitens, Unterwegsseins spiegelt sich in der asiatischen Malerei. So trägt eine Winterlandschaft des japanischen Malers Takahashi Dohashi die Aufschrift: „Ein Ort, um Herzen zu treffen, muss nicht in der Ferne liegen." Zwei Männer gehen durch den Schnee, ins Gespräch vertieft, während ihnen ein Diener mit einem Musikinstrument folgt. Eines von mehreren Zeichen, die ein fruchtbares Jahr verheißen.
Maler im Freien an der Staffelei: Sie gehören ins Kapitel Künstlerwanderung. Der Russe Iwan Schischkin gehörte zur Gruppe der Peredwischniki, der Wanderausstellungsmaler, und durchstreifte selbst gern das Gebirge. Sein Kollege Iwan Nikolajewitsch Kramskoi porträtierte ihn unterwegs mit Sonnenschirm und Malkasten.
Als Anti-Romantiker wirkt hingegen überraschenderweise Carl Spitzweg. Schon 1832 erfuhr er in Italien, dass der Tourismus zerstört, was er sucht. Sein Gemälde „Engländer in der Campagna" um 1835 zeigt es: Ein Gruppe von Touristen lässt sich von einem eigenen Führer, einem Cicerone, die antiken Ruinen erklären. Sonnenbrille, Reiseführer und Klappstuhl – klassische Reise-Ausrüstung der britischen Gruppe – zeigen, dass diese Menschen fremd sind. Sie wandern nicht, sie gehen bestenfalls spazieren. Und konsumieren Naturschönheit im Vorübergehen.
Natur als geschätzter Rückzugsort
Freundlicher gestimmt zeigt August Macke seinen „Spaziergang in Blumen": Beinahe scheinen die junge Frau und ihr Begleiter mit den Pflanzen um sie herum zu verschmelzen, Natur dient als Rückzugsort für die Städter. Widmeten sich Frauen bis etwa 1900 nur selten dem Wandern, ändert sich das mit der beginnenden Emanzipation. Der Däne Jens Ferdinand Willumsen malte 1912 seine „Bergsteigerin". Damals war es das monumentalste Gemälde einer unbegleiteten Frau als Alpinistin. Ihr Blick wirkt wie ein Symbol der Hoffnung – auch auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Ein prachtvoller Rundgang durch die gemalte Sicht aufs Gehen und Erkunden. Und einer, der für Freunde der Romantik gemacht ist – nur wenige Ausreißer wie August Mackes „Spaziergang in Blumen" und Paul Gauguins „Bonjour Monsieur Gauguin" setzen dem gemächlichen Braun-in-Blau knallige Farben entgegen. Der Katalog bricht den zeitlich engen Rahmen auf: Ein Foto von Beuys, ein Nietzsche-Porträt von Munch geben Ausblicke in Richtung Moderne. In der Ausstellung selbst, in einem eigenen Raum dargeboten, entlässt uns Björks Video „Wanderlust" aus dem Jahr 2010 wieder in Richtung Gegenwart.