Birgit Winter, Mitglied der Victor’s Geschäftsleitung, über visionäre Entwicklungen der vergangenen 40 Jahre – und der kommenden 40.
Frau Winter, wenn Sie die gerade erlebten Präsentationen im Saarbrücker E-Werk Revue passieren lassen: Wie haben Sie die Workshop-Tage erlebt?
Ich habe erlebt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gleichen Visionen haben wie die Geschäftsleitung. Sie wissen genau, wo der Weg hinführen soll. Bemerkenswert war, mit wieviel Motivation unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Präsentationen vorgetragen haben und mit wieviel Herzblut. Das fand ich toll und sehr beeindruckend. Auch die Improvisation bei den Darstellungen – das war phänomenal. Es freut mich, dass in unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein so großes Potenzial steckt. Mit einem solchen Team können wir in die Zukunft starten.
In den ersten Zuschauerreihen konnte ich die eine oder andere Träne sehen. Was war so emotional an der Veranstaltung?
Für mich war das Emotionale daran, dass ich gemerkt habe, wie eng verbunden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Unternehmen sind. Das vergisst man manchmal im Arbeitsalltag. Diese Verbundenheit zu spüren, hat mich wirklich beeindruckt.
Als Mitglied der Geschäftsleitung sind Sie regelmäßig in den Häusern, haben den direkten Kontakt mit den Menschen. Was war heute anders?
Heute war kein Arbeitsalltag. Es gab keine hausspezifischen Themen zu klären, sondern heute haben wir uns allgemein mit der Zukunft beschäftigt und welche Visionen jede und jeder Einzelne hat. Der Austausch untereinander mit den Residenzleiterinnen und Residenzleitern, den Pflegedienstleiterinnen und Pflegedienstleitern und den Residenzberaterinnen und Residenzberatern sowie den Objektleiterinnen und Objektleitern war etwas Besonderes. Es war das erste Mal, dass sich die komplette Führungsbesetzung der einzelnen Häuser zu einem Meeting getroffen und in Arbeitsgruppen etwas gemeinsam erarbeitet hat. Es war eine tolle Erfahrung.
Die Teilnehmer waren in den saarländischen Hotels untergebracht, die Präsentation fand im E-Werk Saarbrücken statt, einer alten Industriehalle. Tut es gut, die Mitarbeiter einmal aus ihrem Arbeitsumfeld in eine andere Umgebung zu holen, wie gerade geschehen?
Ja, auf jeden Fall. Und das wissen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch wertzuschätzen. Ich habe viel Dank von den Teilnehmern erhalten, wie toll sie untergebracht sind, wie gut die Organisation ist, und dass sie sich freuen, dabei zu sein.
Die Arbeitsgruppen haben ihre Zukunftsvisionen vorgestellt. Sie selbst machen sich ja schon länger Gedanken über zukünftige Wohnformen für Senioren. Was wurde und wird denn im Unternehmen entwickelt?
Wir haben schon sehr früh angefangen, neue Wohnformen auszuprobieren. Dazu gehört auch, Senioreneinrichtungen und Hotels miteinander zu verknüpfen. Das ist eine Wohnform, mit der wir uns von den Mitbewerbern abheben. In Berlin zum Beispiel bieten wir Betreutes Wohnen im Hotel und gleich nebendran unsere Pflegeeinrichtung an, verbunden mit der Hotelküche. Neben der Essenskultur bieten wir den Bewohnerinnen und Bewohnern somit auch die Servicekultur des Hotels. Diese Wohnform haben wir schon vor 20 Jahren begonnen. In Unterschleißheim haben wir angefangen. Hinzu kamen Berlin, Erfurt und Leipzig – und das funktioniert bis heute hervorragend. Leben im Hotel als neue Wohnform war vor 20 Jahren vielleicht noch etwas früh. Mittlerweile können sich aber viele vorstellen, später nebenan ins Pflegeheim zu ziehen, wenn sie es brauchen.
Hat Udo Lindenberg schon bei Ihnen angeklopft? Der lebt seit Jahrzehnten im Hotel.
Er lebt in Hamburg, dort haben wir dieses Angebot noch nicht. Aber ich bin mir sicher, in Großstädten können wir das jederzeit anbieten.
Kommen wir zu weiteren möglichen Wohnformen für Senioren in der Zukunft. Wie werden die aussehen?
Ein Zukunftsthema ist, in kleineren Einheiten zu denken, so 40 bis 60 Betten. Ein kleineres, familiäres Haus ist besser zu führen, und es gibt eine engere Bindung zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern und dem Personal. Das wird die neue Wohnform sein: mehr anzubieten und unterschiedliche Pflegeeinheiten. Wir haben heute auch viele verschiedene Krankheitsbilder, die Spezialisierung erfordern.
Apropos kleine Einheiten: Eine Arbeitsgruppe hat die Vision eines Seniorendorfs präsentiert. Für Sie auch ein Thema?
Ja. Im Norden probieren es viele schon aus. Da gibt es sogenannte Demenzdörfer. Ob sich so ein Dorf aufgrund der hohen Grundstückspreise realisieren lässt, ist fraglich. Ein neues, ganzes Dorf auf der grünen Wiese zu errichten, diese Idee braucht hierzulande sicher noch ein bisschen mehr Zeit. Aber solche kleineren Wohnformen, wie eben angesprochen, in einem bestehenden Dorf oder einem Stadtteil anzubieten, wäre ja schon ein Beitrag dazu.
Auch denke ich: Die klassischen Pflegezimmer werden von Wohnungen abgelöst, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner gepflegt werden. Aber auch nicht alleine sind. Denn bei der ambulanten Versorgung zu Hause vereinsamt der Mensch. Da ist so eine kleine Pflegeeinheit schon besser, mit verschiedenen Freizeitangeboten. Schön natürlich, wenn man auch die Senioren von außen damit anspricht und hineinholt, damit es nicht wie eine Insel ist, sondern integriert in die Gemeinde oder das Stadtviertel. Eine offene, kleine Residenz, in der die Menschen schnell Kontakt finden.
Die Menschen werden immer älter, das Thema Demenz spielt eine immer größere Rolle. Welche Konzepte gibt es, diesen Anforderungen zu begegnen?
Da gibt es momentan noch zwei unterschiedliche Meinungen. Zum einen die Tendenz, sich zu spezialisieren, aber es gibt auch die Mischform, also die Integration der Demenzkranken in die Gemeinde. Ich persönlich finde, man soll sich eher spezialisieren, um die Betreuung von Menschen mit Demenz zu intensivieren. Es ist eine andere Versorgung. Ich persönlich habe früher lieber demente Bewohnerinnen und Bewohner versorgt. Die Versorgung liegt mehr in der Betreuung. Eine spezifische Versorgung von Dementen halte ich für qualitativ besser. Ich habe eben das Beispiel Demenzdorf genannt. Es gibt solche Einrichtungen zum Beispiel auch in den Niederlanden oder Schweden, wo die Dementen in einer eigenen Wohneinheit leben können. Das sollten wir ausprobieren – ob das nun ein Dorf ist oder eine kleine Einheit.
Durch die letzte Pflegereform wurde Demenz stärker bei der Einteilung in Pflegegrade berücksichtigt. Wie sind Ihre Erfahrungen – hat dies die Versorgung von Demenzkranken verbessert?
Ja, sicherlich. Durch die neue Pflegereform steht uns mehr Betreuungspersonal zur Verfügung – und das spielt schon eine große Rolle. Für eine qualifizierte Betreuung müssen wir allerdings auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden, die speziell dafür ausgebildet sind oder die wir ausbilden lassen.
Wo kriegen Sie diese spezialisierten Betreuungskräfte her?
Der Fachkräftemangel ist überall spürbar, auch in anderen Branchen. Deshalb müssen wir die Aus- und Weiterbildungsangebote selbst erschaffen – was wir auch tun. Gerade das ist eine Stärke von uns.
Ein Blick zurück auf 40 Jahre Victor’s. Sie hatten eben bereits die Verbindung mit der Hotellerie angesprochen. Ein Konzept, dass vor 20 Jahren schon sehr innovativ war. In welchen weiteren Bereichen war Victor’s in der Vergangenheit bereits visionär?
Bei der Einführung der Kurzzeitpflege Ende der 80-er Jahre in Vaterstetten. Da waren wir federführend. Kein Mensch hatte bis dahin über 50 Pflegeplätze für einen begrenzten Zeitraum am Markt angeboten, so wie wir.
Heute bieten es alle an.
Ja, das war damals wirklich visionär.
Mit dem betreuten Wohnen ist die Unternehmensgruppe auch schon lange am Start.
Ja, schon seit Mitte der 80er. Da existierte zwar schon Betreutes Wohnen; die Interessenten mussten sich einkaufen. Auch hier waren wir eine der ersten am Markt: Wohnen im Apartment mit Service- und Betreuungsleistungen ohne Einstandssumme.
In den Medien liest man düstere Prognosen zu Fachkräftemangel und Pflegekrise. Wie ist Ihre persönliche Pflege-Vision?
Ich persönlich habe eine positive Vision. Wissen Sie, wenn man will, kann man ja alles düster- und schlechtreden. Personalknappheit war immer ein Thema, das hatten wir in Bayern schon vor 20 Jahren. Auch damals mussten wir schon auf der Suche nach Fachkräften kreativ sein. Warum sollen wir jetzt schwarzsehen? Wir werden auch in Zukunft Menschen für den Pflegeberuf begeistern. Wir haben ja sehr viele Auszubildende in unserem Unternehmen. Diese Kräfte müssen wir halten und fördern. Auch mit den ausländischen Fachkräften verbinden wir eine große Chance.
Jedoch denke ich, dass wir unsere Strukturen und Abläufe ändern sollten. Wir müssen die fachliche Spezialisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern je Neigung weiter voranbringen.
Was wird, neben dieser Spezialisierung, in 40 Jahren anders sein in der Pflege?
Es wird andere Wohnformen geben. Die Pflege an sich wird so sein wie heute. Wir haben ja auch schon vor zig Jahren gut gepflegt. Aber die Abläufe werden sich verändern und die Wohnformen. Es wird keine Mehrbettzimmer mehr geben, sondern nur noch Einzelzimmer. Das Angebot wird sich danach entwickeln, was die Bewohnerinnen und Bewohner haben wollen, und danach werden wir uns richten. So arbeiten wir ja heute schon.
Heißt das mehr Betreutes Wohnen im Apartment?
… und im Hotel. Ich persönlich möchte im Alter gerne im Hotel leben, aktiv sein können, aber auch die Sicherheit haben, dass sich jemand um mich kümmert, wenn es mir nicht so gut geht. Und dass ich im Anschluss in eine Pflegeeinrichtung gehen kann. Diese Konstellation wäre für mich das Optimum.
Das heißt, in Zukunft werden mehr Menschen bereits in ein seniorengerechtes Umfeld ziehen, bevor sie Pflege brauchen. Außerdem wird ja auch nicht jeder Mensch pflegebedürftig.
Genau. Es wird zum Beispiel auch Seniorenwohngemeinschaften geben. Es wird viele verschiedene Wohnformen für Senioren geben. Wir werden ein differenziertes, individuelles Angebot haben, so dass jeder so leben kann, wie er es gerne möchte. Und vor allem selbstbestimmt leben. Wir machen es zwar heute schon vor, doch es geht noch nicht überall, da erst noch die Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Es muss ein Umdenken stattfinden.
Welche Rahmenbedingungen muss die Politik schaffen?
Mehr Anerkennung für die Pflegeberufe, gleiche Arbeitsbedingungen sind wichtig. Das Stichwort „flächendeckender Tarifvertrag" haben wir bei den Workshop-Präsentationen öfter gehört. Da warten alle auf die Politik.