Vor sechs Jahren hatte Antonio Bragato das „Il Calice" verkauft und wollte danach sein Leben auf Mallorca genießen. Doch weil sein Nachfolger das Restaurant in die Insolvenz trieb, kaufte er es kurzerhand zurück und eröffnete es wieder – sehr zur Freude der Gäste.
Eigentlich müsste der Platz „Piazza Bragato" heißen, ist doch der Name von Antonio Bragato mit der großen Freifläche zwischen Leibniz- und Wielandstraße untrennbar verbunden. Das wäre dem Philosophen und großen Flaneur Walter Benjamin gegenüber, nach dem der im Jahr 2000 errichtete und die Leibniz-Kolonnaden verbindende Platz in Charlottenburg benannt wurde, allerdings mehr als ungerecht. Außerdem ist Antonio Bragato glücklicherweise höchst lebendig. So wie sein Restaurant „Il Calice", das er zum zweiten Mal erfolgreich und in genau denselben Räumlichkeiten betreibt.
Die leicht unrühmliche Zwischenphase währte nur von 2012 bis 2016. Bragato hatte verkauft, wollte sich auf Mallorca anderen Geschäften, seiner Familie und dem dortigen guten Essen widmen. Doch als der neue Besitzer das Restaurant in die Insolvenz führte, gab es für Bragato kein Halten mehr. Er kam und kaufte das Lokal, das er elf Jahre lang erfolgreich geführt hatte, im Oktober 2016 kurzerhand zurück. Seinen Sohn Louis Bragato holte er als stellvertretenden Geschäftsführer ins Boot. „So einige Stammgäste waren ziemlich glücklich, als sie hörten, dass der Name Bragato wieder im Spiel war", sagt Louis Bragato, mit dem wir uns auf der Terrasse verabredet haben – zu genau dem, was die Stammgäste des „Il Calice" seit 1990 besonders schätzen: einem guten Wein und einer Antipasti-Platte. Und zu noch ein bisschen mehr vom guten italienischen Essen.
Die Antipasti-Platte, die auf den schönen Namen „Superdegustazione" hört, begleitet das Lokal und seine Gäste seit 1990, als die erste „Enoiteca Il Calice" als Weinbar mit kalten Speisen in der Giesebrechtstraße eröffnete. Auf einer hochgebockten Holzplatte mit japanischer Anmutung präsentieren sich zur Verkostung der superben Art ein klassisches Vitello Tonnato, ein Vitello Genovese mit Pesto, Rosmarinschinken, Prosciutto Crudo mit Lorenzini-Melone, Salami Nostrano sowie Rohmilchkäse vom Affineur Buffanti. Zu schmecken haben wir alles, und zu reden haben wir insbesondere über die „Carne Salata". Sie ist ein Aufschnitt vom gebeizten Rindfleisch. „Man steckt die Flasche mit dem Rotwein in das Stück Oberschale kopfüber hinein", erläutert Louis Bragato die Herstellung. Darin steckt sie 24 Stunden und gibt langsam so viel Wein ab, wie das Fleisch aufnehmen kann. Das Fleisch würzt sich von innen durch den Wein und außen durch eine Salzkruste quasi von selbst.
Ist es in der Art eines Carpaccios aufgeschnitten, wird es mit einer kräftigen Zitronen-Vinaigrette serviert. Wir gabeln von der Platte, was uns aus Italiens Küchen geläufig oder neu, in jedem Fall aber hocharomatisch und genussvoll ist. Wie gut, dass unter den ausgeklappten „Tisch-auf-dem-Tisch"-Beinen noch Platz für das Brot, ein Schälchen Olivenöl und mariniertes Gemüse vom Grill ist! Auf der maritimen Schwester-Platte, der „Grande Variazione di Mare", finden gegrillte Garnelen mit Salsa Rossa, eine Ceviche von der Gelbflossenmakrele, gegrillte Venusmuscheln, Oktopussalat und ein Schwertfisch-Carpaccio ihren Platz. Uns gelüstet es nach Fleisch und Käse in der „Superdegustazione"-Spielart für 20 Euro pro Nase, die für mindestens zwei Personen gereicht wird und die locker einen Häppchen-Abend mit Kaltgetränken ergiebig begleitet. Die Meeres-Variation schlägt mit 38 Euro pro Person zu Buche.
Bella Italia lässt grüssen
Es liegt nicht allein am „Il Mattaglio" aus der „Cantina della Volta", dass wir über die Blütenkante der Blumenkästen hinweg so gern dem Treiben rund um den kleinen Kiosk nebenan auf dem Platz zuschauen. Der Spumante di Modena von 2011, der sich aus Pinot-Noir-Trauben „nach Champagnerart in Flaschengärung hergestellten Blanc de Noir" verwandelte, wie Louis Bragato erläutert, perlt uns im Glas fein an: „Cincin"! Der neben dem einzigen Kastanienbaum auf dem Platz errichtete „Chiosco" hat eine altberlinerisch schmiedeeiserne Anmutung; die kreuz und quer verteilten Gartenstühle, von den Gästen nach Bedarf zwanglos umgruppiert, unterstützen die Atmosphäre von gemacher Lebensfreude. Bella Italia lässt bei einem Glas Wein, einem Sandwich oder einem aufs Waffelhörnchen gespachtelten Eis aus dem ab 16 Uhr geöffneten „Büdchen" der italienischen Art deutlich grüßen.
Kann es Zufall sein, dass ein Rollerfahrer flott durch die Szenerie und beinah direkt an unserem Tisch vorbeifährt? „Fehlt nur noch das Hupen", merkt die Begleiterin an. Louis Bragato behauptet lachend, nichts inszeniert zu haben, wenngleich der Kiosk tatsächlich zum „Il Calice"-Reich gehört. Keine Frage: Die Gastronomie und das Leben tun dem recht weiträumig und schnell leer wirkenden Platz zwischen den Leibniz-Kolonnaden gut. Die ungezwungene Atmosphäre für das schnelle oder langsame Glas Wein oder den Cappuccino lockt die Gäste vielleicht das nächste Mal auf eine „Cena" oder ein Mittagessen auf die Terrasse oder ins Restaurant hinein.
Dort führt Roberto Sannio Regie in der Küche. Der 24-Jährige ist seit Anfang 2018 im „Il Calice". Er kam nach seiner Ausbildung in einer Kochschule in Casetta bei Neapel gleich nach Berlin. Sannio ist der Mann, der den Gerichten den Extra-Twist gibt. So garte er „bei exakt 51 Grad" Kabeljau sous vide und zwar in einer „Colatura di Alici", einer bei der Konservierung und Reifung von eingelegten Sardellen entstehenden Würzsauce. „Ein Grad mehr macht den Fisch kaputt", lässt uns Sannio wissen.
Wir nehmen den Kabeljau mit einer Süßkartoffelcreme, Oktopussalat mit Paprika und Staudensellerie sowie mit gegrillten Garnelen mit Vergnügen zu uns. Wir bleiben auch beim Risotto am Meer: Ein mit Zitrone leicht mariniertes Garnelen-Carpaccio toppt den schlotzig gekochten und gerührten Carnoli-Reis mit grünem Spargel und Schnittlauch. Louis Bragato schenkt uns einen 2017er „Di Macchia" aus dem Veneto, der Region, aus der sein Vater stammt, ein. Der Wein wurde 12 bis 24 Stunden auf der Schale fermentiert und kam so zu seinem kräftigen, voluminösen und „bissigen" Charakter, der ihn zum perfekten Gegenpart des Risottos macht. Auf die Weinempfehlungen von Signore Bragato junior ist Verlass. Gemeinsam mit seinem Vater, der übrigens selbst Wein anbaut, und mit Sommelier Nitja Kostka, der die Weinhandlung des „Il Calice" gleich nebenan betreut, sucht er nach immer neuen, ausdrucksstarken Weinen. Schwerpunkt der 350 vorrätigen Sorten sind die Roten.
Rotwein lässt sich auch kühl genießen
„Rotwein hat sehr vielfältige Geschmäcker, selbst innerhalb einer Region", sagt Louis Bragato. Sämtliche Weine im „Il Calice", mit Ausnahme der Champagner, stammen aus Italien, vorrangig aus dem Piemont, Südtirol und dem Friaul. Mehr als 20 Weine, vom „Trinkigen" für 4,50 Euro bis zu absoluten Spitzenweinen für 15 Euro das Glas – sind regelmäßig und wechselnd im Ausschank. Wer fragt, entdeckt vielleicht am selben Abend noch Unbekanntes und Unerwartetes im Glas.
Zum Fleischgang mit einem „Secreto Ibérico", einem „falschen Filet" vom Schwein, das Papa Antonio aus Spanien bezieht, lassen wir es uns mit gegrillten Auberginen in einer Pinienkern-Marsala-Sauce gut gehen. Das Schweinderl ist schön von Fett durchzogen und gibt so sein volles Aroma preis. Wir schwenken dazu zu einem 2016er „Etna Rosso" von der „Tenuta delle Terre Nere" über, der gut gekühlt sein vulkanisches sizilianisches Temperament von der Nordseite des Ätna mit frischer kirschiger und angekräuterter Eleganz im Glas verbindet. „Man muss die Rotweine keineswegs so warm trinken, wie es sich hierzulande irgendwann eingebürgert hat", sagt Louis Bragato. Stimmt.
An diesem Sommerabend gleitet der kühle Rote wie auf gut geschliffenen Schlittschuhkufen am Fleisch entlang. Wer den Abend mit einer mit Ingwer und Johannisbeersaft marinierten Wassermelone, einer Mascarpone-Creme mit Safran, einem beinah schon pikanten Zitronensorbet mit gehackten schwarzen Oliven ausklingen lässt, spürt unverzüglich, wie man in schönster italienischer Tradition mit heißen Berliner Sommern kulinarisch und atmosphärisch perfekt umgehen kann.