Forsa-Chef Manfred Güllner steht für Meinungsforschung mit zuverlässigen Ergebnissen. Auch in Sachen Wahlen. Fatal findet er aber, wenn sich Politiker nach Umfragewerten richten.
Herr Professor Güllner, Wahlumfragen sind ja heutzutage sehr zuverlässig. Beeinflussen sie nicht auch die Wahlergebnisse? Sprich:
Könnten Sie eine Wahl drehen?
Das funktioniert zum Glück nicht! Die Menschen sind weltweit sehr souverän. Das ist zum Beispiel in den USA sehr schön zu beobachten: Während in Kalifornien noch gewählt wird, liegt das Ergebnis von Florida bereits vor. Das erste Wahlergebnis von der Ostküste hatte bislang keinen nachweisbaren Einfluss auf die letzten Wähler an der Westküste der USA.
Und bei uns?
Auch hier in Deutschland kann man das belegen: Ab und zu kommt es zu Nachwahlen, wenn beispielsweise in einem Wahlkreis ein Kandidat kurz vor der Wahl verstorben ist. Selbst unter dem Eindruck eines amtlichen Endergebnisses haben die Wähler in ihrem Wahlkreis immer im Trend gewählt. Ohne Ausreißer.
Aber es gibt doch taktisches Wählen, oder nicht?
Es gibt eine klassische Schnittmenge von Wählern, die sich aus taktischen Gründen an den Umfragen orientieren, wie die Wähler von CDU und FDP. Da wird dann schon geschaut, liegt die FDP unter fünf Prozent? Dann wäre meine Stimme verschenkt, ich wähle lieber CDU. Andersherum hat die CDU 2013 eine Zweitstimmen-Kampagne für die FDP gemacht wegen deren schlechter Umfragewerte – um nach der Wahl mit der FDP weiter regieren zu können.
Also wäre auch die Forderung, zwei Wochen vor einem Urnengang keine Umfragen mehr zu veröffentlichen, überflüssig?
Das bringt absolut nichts. Das sehen Sie ja schon an Frankreich: Die haben so ein Verbot, da kommen dann kurz vor der Wahl die Umfragen eben aus Belgien. Außerdem gibt so eine Umfrage dem Wähler ja auch immer ein bisschen Orientierung. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wir als Umfrage-Institut würden so ein Verbot wirtschaftlich ohne Weiteres verkraften, darum geht es nicht. Doch auf das Wahlergebnis am Sonntagabend hätte so ein Verbot keinerlei Einfluss.
Die meisten Deutschen bringen das Umfrageinstitut Forsa mit Wahlumfragen in Verbindung. Ist das Ihr Hauptgeschäft?
Nein, direkte Wahlumfragen machen bei uns im Betriebsergebnis vielleicht 15 Prozent des Umsatzes aus. Wir sind ja ein kommerzielles Unternehmen und befragen die Menschen im Auftrag zum Beispiel von RTL oder aber auch von FORUM, wie im vergangenen Jahr zur anstehenden Landtagswahl im Saarland. Von Wahlumfragen allein könnten wir jedoch nicht leben, das Geld verdienen wir mit Medien- und Marktforschung. Aber die Wahlumfragen sind ein wichtiges Forschungsfeld für die Demokratie in Deutschland, und da sind wir natürlich auch aktiv.
So auch bei der bevorstehenden Landtagswahl in Bayern Mitte Oktober. Wobei der Freistaat schon etwas Besonderes ist, oder?
Ja, das Besondere ist das bisherige Monopol der CSU. Die CSU war über Jahrzehnte die modernste Volkspartei Europas, mit einer Bindekraft von ganz rechts bis mittelinks. Diese Bindekraft scheint sie nun endgültig verloren zu haben, das bestätigen auch unsere Zahlen. Allerdings hat diese Entwicklung nicht jetzt erst eingesetzt, sondern schon vor einiger Zeit – als die Christsozialen noch mit absoluter Mehrheit allein regierten. Erstes Anzeichen war der Einzug der Freien Wähler in den bayerischen Landtag. Seitdem hat die CSU es nicht geschafft, dieses Vertrauensvakuum in die eigene Partei aufzulösen.
Gilt denn noch die alte Faustformel „der ländliche Raum wählt konservativ, und in den Städten haben die Linken die Mehrheit"?
Nein, das gilt so nicht mehr. Ohnehin ist fraglich, ob es überhaupt in den 50er- und 60er-Jahren wirklich so krass war. Die SPD war in der Tat lange Zeit in den Großstädten die dominierende Kraft. Es gab bis in die 70er-Jahre hinein keine Großstadt mit über 500.000 Einwohnern – mit Ausnahme von Stuttgart – die nicht von einem Sozialdemokraten regiert wurde. Doch 1977 wurde dann der Christdemokrat Walter Wallmann in Frankfurt am Main Oberbürgermeister und ein Jahr später Erich Kiesl von der CSU Oberbürgermeister in München. Und Stuttgart hat heute mit Fritz Kuhn einen Grünen an der Spitze – die Formel stimmt also nicht mehr.
Wie ist es denn mit der Konkurrenz zwischen den Umfrageinstituten – zum Beispiel bei Bundestagswahlen?
Wir liegen da ganz gut im Rennen, 2002, 2009 und 2013 hatten wir mit unseren Umfragen die besten Prognosen. Bei der Wahl im letzten September haben wir die Grünen zu schwach eingeschätzt, die waren am Ende stärker, als von uns vorhergesagt – deswegen lagen wir dann tatsächlich „nur" auf dem zweiten Platz. Das kann passieren und ist überhaupt nicht schlimm. Eher zeigt es, wie genau unsere Umfragen insgesamt schon sind. Einen Prognose-Weltmeister gibt es nicht, das ist Quatsch. Denn bei Prognosen muss man immer auch ein bisschen Glück haben.
Wobei es teils schon seltsame Phänomene gibt – man denke nur an den Schulz-Hype im letzten Bundestags-Wahlkampf. Was war das denn, heiße Luft der Umfrageinstitute?
Nein, auf keinen Fall! Ich glaube, der Schulz-Hype war vielmehr ein großes Missverständnis. Mit Schulz’ Auftauchen dachten offenbar viele Wähler: Da ist jemand, der nicht zum Berliner Polit-Establishment gehört, der meine Sprache spricht. Jemand mit einer Buchhändlerausbildung, jemand, der gefallen und wieder aufgestanden ist.
Aber irgendwann ist da etwas gekippt …
Nach und nach wurde immer bekannter: Schulz ist das SPD-Präsidiumsmitglied mit der längsten Amtsdauer. Also gehört er ja doch zum Berliner Establishment, und er hat auch alle Regierungsentscheidungen, sowohl in Berlin als auch in Brüssel, immer mitgetragen. Ein weiteres Problem war: Das, was die Befragten an Schulz festgemacht haben, hat sich nicht auf die SPD übertragen. Die Werte für die Kompetenz der SPD als Partei wurden nicht besser. Und keiner wählt eine Partei, der er nicht zutraut, die anstehenden Probleme zu lösen – Schulz hin oder her.
Dennoch: Dass eine Partei innerhalb von zwölf Wochen in Umfragen zehn Prozentpunkte nach oben schießt: Da haben sich doch viele gefragt, ob das so stimmen kann.
Diese Zahlen stimmten, ja! Am Anfang des Schulz-Hypes waren es vor allem die unentschlossenen Wähler, von ihnen viele Nichtwähler, die plötzlich aufhorchten und uns in den Umfragen sagten: Also mit dem Schulz kann ich auch die SPD wieder wählen. Dazu kam eine gewisse Aufbruchsstimmung, nachdem der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel auf die Kanzlerkandidatur verzichtet hatte. Deswegen schlug sich der Hype auch in unseren Zahlen nieder. Auch wenn es das vorher so noch nicht gegeben hat.
Sie arbeiten bei Forsa mit ganzen Prozenten, andere Institute sogar mit halben. Ist das dann noch genauer?
Das ist ziemlicher Blödsinn. Leider ist es so, dass auch Allensbach eine Zeit lang Umfragen mit Werten hinter dem Komma veröffentlicht hat – deswegen kann sich nun jeder darauf berufen, dass ein altes, renommiertes Institut wie Allensbach das auch gemacht hat. Aber Werte hinter dem Komma sind bei Umfragen Nonsens. Wenn man bei den Hochrechnungen am Wahlabend mit Werten von 0,5 Prozent arbeitet, mag das angehen. Da hat man dann aber auch eine ganze andere Datenbasis. Doch selbst bei der ersten Prognose um 18 Uhr werden eigentlich meistens nur ganze Werte angeben.
Wie hoch ist denn die Fehlerquote bei Umfragen?
Die statistische Fehlerquote hängt natürlich auch von der Anzahl der Befragten ab: Je weniger Personen befragt werden, desto höher der Fehlerwert. Generell kann man bei einer Umfrage mit 2.500 Befragten davon ausgehen, dass die Werte um zwei bis drei Prozent nach oben oder unten differieren können. Diese Umfrage ist dann methodisch immer noch richtig. Das steht auch so bei uns im Kleingedruckten, doch wer liest das schon …
Früher klingelte das Telefon im Wohnzimmer, wenn Umfragen gemacht wurden – ist das heute immer noch so?
Das Festnetz-Telefon ist nach wie vor der Kern unserer Erhebungen, knapp ein Drittel der angerufenen Nummern sind Mobil-Anschlüsse. Anders als in Skandinavien, wo die Mobil-Nummern eine regionale Vorwahl haben, können wir Funknummern hierzulande nicht regional zuordnen. Das wird auch so bleiben. Denn trotz aller Bemühungen, nicht nur von Forsa allein, sondern von unserem Branchenverband, sind die Mobilfunkbetreiber nicht bereit, uns zu den Funknummern auch den Wohnort der Besitzer zu offenbaren. Also bleiben wir auf das Festnetz angewiesen, um regional zuordnen zu können.
Erreicht man da nicht vor allem ältere Menschen, die eher noch einen Festnetzanschluss haben als Jüngere?
Nein, die Gefahr sehe ich nicht. Nach unseren bisherigen Erfahrungen geht der Anteil der Festnetz- oder Mobilfunkkunden quer durch alle Altersstufen. Sie dürfen bei den Wahlumfragen auch nicht vergessen, dass ältere Wähler weitaus mehr zur Wahl gehen als jüngere. So war es zumindest in den vergangenen Jahrzehnten.
Befragen Sie die Menschen auch via Internet?
Ja, selbstverständlich! In unserem Online-Panel sind 75.000 Personen gespeichert, die wir befragen. Das Besondere daran ist, das wir die Probanden selber rekrutiert haben. Sie können sich also hier nicht anmelden und mitmachen, sondern wie bei unseren Telefonumfragen suchen wir uns die Leute selber aus. So können wir beispielsweise auch in der Marktforschung entscheiden, ob es Sinn macht, eine Person überhaupt online zu befragen. Die 75.000 stellen tatsächlich einen statistischen Querschnitt durch die Gesellschaft dar. Meines Wissens ist so ein Online-Panel einmalig in Deutschland. Aber für Wahlumfragen ist es nicht geeignet.
Warum?
Wie gesagt, es gehen wesentlich mehr Ältere zur Wahl als Jüngere, aber im Internet dominieren ganz klar die Jüngeren. Damit würde es bei Online-Befragungen zur Wahlstimmung zu Verzerrungen kommen. Da ist die klassische Telefonumfrage immer noch das beste Instrument.
Am Wahlabend selbst berufen sich Parteien gern aufs Wetter, wenn sie die erstrebten oder auch prognostizierten Ergebnisse nicht einfahren konnten. Zu Recht?
Ich glaube, das Wetter am Wahltag wird überschätzt. Meist geht es eher darum, dass Parteien die eigenen Wähler nicht mobilisieren konnten. In 50 Jahren habe ich nur einen einzigen Fall erlebt, wo das Wetter möglicherweise den Wahlausgang mitbestimmt hat: 1985 lag Johannes Rau von der SPD in den Umfragen bei annähernd 50 Prozent, die CDU hingegen hatte einen Kandidaten (Berhard Worms, Anm. d. Red.), der bei den eigenen Leuten überhaupt nicht ankam. Dann ging um 17 Uhr in ganz Nordrhein-Westfalen ein unglaubliches Gewitter runter. Offenbar blieben die unentschlossenen CDU-Wähler zu Hause – jedenfalls fuhr SPD-Ministerpräsident Rau bei der Landtagswahl mit 52,5 Prozent sein bestes Ergebnis ein. Ohne dieses Gewitter wären es für ihn vermutlich zwei Prozent weniger gewesen.
Herr Professor Güllner, Sie machen seit 50 Jahren Umfragen – sind Sie der Mann mit der Kristallkugel?
(lacht) Das wäre schön, wenn man das alles so präzise vorhersehen könnte, aber das geht nun mal nicht. Eher sind wir so etwas wie die Lotsen an Bord eines Schiffs. Ich sage den Politikern immer: Ihr dürft eure Politik nicht nach Umfragen ausrichten, das wäre ganz fatal! Aber wir können Hinweise geben auf seichte Stellen und Sandbänke. Und damit auch auf zukünftig anstehende Aufgaben.