Georgien ist das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse. Das kleine Land an der Schwarzmeerküste steckt voller literarischer Entdeckungen. Seine Geschichte und Gegenwart haben es den Autoren ebenso angetan wie ziemlich schräge Fantasie-Szenarien.
Die Spurensuche beginnt in einem Hinterhof am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg. Hier hat der Verbrecher Verlag seinen Sitz, ein Independent-Verlag mit einem beachtlichen Programm, das von linker Zeitgeschichte bis hin zu junger Gegenwartsliteratur reicht. Ein Groß- und gleichermaßen Herzensprojekt von Verleger Jörg Sundermeier ist die Herausgabe der Werke von Giwi Margwelaschwili.
Margwelaschwilis Leben atmet die Geschichte Georgiens: Als Sohn eines 1921 vor der Roten Armee geflohenen georgischen Orientalisten in Berlin geboren, lebt der inzwischen über Neunzigjährige dieser Tage wieder in Georgiens Hauptstadt Tbilissi. Dazwischen liegt ein abenteuerliches Leben zwischen den Systemen: Als Schüler im nationalsozialistischen Deutschland kritisch beäugt, später von den sowjetischen Alliierten im weiter genutzten Konzentrationslager Sachsenhausen interniert und danach in das ihm fremde Georgien ausgewiesen. Dort arbeitete er zunächst als Deutsch- und Englischlehrer und begann seine ersten Romanprojekte, geriet aber immer wieder mit den Machthabern in Konflikt. 1993 ließ er sich schließlich wieder dauerhaft in Berlin nieder, wo er Kontakte mit der umtriebigen Literatenszene im Prenzlauer Berg knüpfte. Hier konnte er schließlich auch seine ersten, stets auf Deutsch verfassten Romane veröffentlichen.
Biografisches mischt sich mit Fiktion
Die Heimatlosigkeit, das bis hinein in die Sprache reichende Unsicherheitsgefühl und Misstrauen in stabile Verhältnisse sind zentrale Themen von Giwi Margwelaschwilis Erzählungen und Romanen, die mitunter eine Länge von 800 Seiten erreichen können. So etwa in „Der Kantakt", 2008 erschienen: Hier inszeniert sich Margwelaschwili selbst als Romanfigur, die seine reale Lebenssituation als Stadtschreiber von Rheinsberg mit dem gleichnamigen Tucholsky-Bändchen vermischt. Auf eine ähnliche Weise funktioniert der Science-Fiction-Roman „Officer Pembry", in dem Robert Harris’ Thriller „Das Schweigen der Lämmer" von einem Kriminalbeamten als Vorhersage seiner eigenen Zukunft gelesen wird. Er will sich durch die Lektüre vor dem Kannibalen Hannibal Lecter retten. Margwelaschwili macht sein Leben aber vielleicht am deutlichsten zum Romanstoff in seinem zweibändigen Werk „Kapitän Wakusch", das von Kindheit und Jugend im Dritten Reich („Deuxiland") sowie Lagererlebnissen im Speziallager („Sachsenhäuschen") berichtet.
Einen letzten biografischen Schlenker hat Giwi Margwelaschwili 2011 gemacht: Aus gesundheitlichen Gründen ist er vom Plattenbau in Ostberlin nach Tbilissi gezogen, wo ein Teil seiner Familie lebt.
Die Besetzung der Demokratischen Republik Georgien durch die Rote Armee im Jahr 1921 ist ein entscheidendes Datum in Otar Tschiladses Roman „Der Korb", der, bereits 2003 erschienen, erst in diesem Jahr in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Der auch durch seine Lyrik und sein dramatisches Werk hervorgetretene Autor ist einer der modernen Klassiker der georgischen Literatur. Im „Korb" erzählt er die fiktive Familiengeschichte der Kaschelis, die äußerst brutal die Geschicke Georgiens mitbestimmen. Dabei geht er sehr weit in die Geschichte seines Landes zurück, Papst Pius II. und der sächsische Abenteurer und Hasardeur Gottlob Heinrich von Tottleben treten auf. Als schließlich die Rote Armee Georgien unter ihre Kontrolle bringt, setzen sich die unheilvollen Ereignisse des Romans in Bewegung: Der Sohn eines Bauern, in einem Korb verschanzt, wird mit eigenen Augen Zeuge am Mord, den der Vater an seiner untreuen Frau begeht. Sie hatte sich mit dem sowjetischen Militärkommandanten eingelassen. Damit sind die Grundlagen für das weitere Leben des Jungen gelegt: Als Gesetzloser, Mörder, Vergewaltiger und Brandschatzer zieht er durch das Land und sammelt eine ganze Sippe von Gleichgesinnten, die beginnen, die Geschichte ihres Heimatlandes durch Intrigen und Korruption mitzubestimmen.
Otar Tschiladse starb 2009; „Der Korb" war sein letzter Roman und gilt als sein literarisches Vermächtnis. In einer Verknüpfung aus Familiensaga, griechischer Mythologie und politscher Beobachtungsgabe kombiniert er zentrale Themen der georgischen Geschichte und Kultur.
Derweil hat aber die junge Literaturszene gerade eine Blütezeit erreicht. Ihr Markenzeichen ist vor allem die bunte Mischung aus Stilen und Traditionen, die in dem kleinen Land locker nebeneinander existieren. Da ist die 1978 geborene Nana Ekvtimishvili, die im Film wie in der Literatur zu Hause ist. Ihr erster Roman „Das Birnenfeld", 2015 in Georgien erschienen, thematisiert Bruchlinien und Kontinuitäten in der georgischen Gesellschaft. Das Fortdauern bestehender Muster überschattet in Form eines sowjetisch geprägten Internats für geistig behinderte Kinder die Handlung. Ein Lichtblick in dieser Tristesse ist Lela, eine leidenschaftliche Kämpferin für Freiheit und Individualität. Für den Ausbruch aus althergebrachten Strukturen steht auch der 1973 geborene Zaza Burchuladze. Seine Romane, von denen bislang „Adibas", „Touristenfrühstück" und „Der aufblasbare Engel" auf Deutsch erschienen sind, sind Gegenwart pur: Sie handeln vom Hyperkapitalismus der Nullerjahre, von Markenfixiertheit und Horrorvorstellungen in einer Realität 2.0, in der nichts ist, wie es scheint. Aufgrund seiner undogmatischen Vorstellungen in Georgien von religiösen Extremisten angefeindet, lebt Zaza Burchuladze seit einigen Jahren im Exil in Berlin.
Realität, in der nichts ist, wie es scheint
Noch eine Generation jünger ist der 1990 geborene Autor Beka Adamaschwili. Sein Debütroman „Bestseller" ist 2017 auf Deutsch erschienen und in vielerlei Hinsicht eine Überraschung: Der gescheiterte Schriftsteller Pierre Sonnage beschließt, dass er nur auf einem Weg endlich zu Ruhm kommen kann – er muss sterben. Zu seiner Überraschung landet er nach dem Sprung von einem Wolkenkratzer jedoch auf direktem Wege in der Literatenhölle, wo Schriftsteller von den Figuren und Handlungen ihrer eigenen Werke bis in alle Ewigkeit gequält werden. Er findet sich wieder neben Berühmtheiten wie Dante, Kafka und Hemingway und muss sich gefährlichen Aufgaben stellen. – Hier scheint der lange Schatten von Giwi Margwelaschwili in das Werk des jungen Autoren hineinzureichen: Dessen Spezialität war es ja ebenfalls, selbstreflexive, verspiegelte, mit der Literaturgeschichte spielende Romane zu erschaffen.
Die wohl bekannteste georgische Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist Nino Haratischwili, die seit 2004 in Hamburg lebt. Mit ihren Romanen hat sie sich in die Herzen ihrer Leser geschrieben: „Das achte Leben (für Brilka)" ist inzwischen ein Kultklassiker, ihr neuester Roman „Die Katze und der General" steht aktuell auf der Shortlist für den renommierten Deutschen Buchpreis. Nino Haratischwili schreibt auch fürs Theater und führt Regie, wurde mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet. In ihrem ersten Roman „Juja" von 2010 thematisiert sie den vorgeblich authentischen Fall der französischen Schriftstellerin Jeanne Sare, die sich mit 17 Jahren vor einen Zug geworfen hat und ein Buch hinterlassen hat, das als feministischer Schlüsseltext gilt. Dieser Roman und auch sein Nachfolger „Mein sanfter Zwilling" über eine destruktive Geschwisterbeziehung hatten noch einen klar umrissenen Umfang und Handlungsraum. Anders „Das achte Leben (für Brilka)": Auf über 1.200 Seiten entfaltet sich ein einzigartiges geschichtliches Panorama, das ein ganzes Jahrhundert umspannt und die Geschichte der Familie von Stasia, einer Dynastie von Schokoladefabrikanten, durch alle Hochs und Tiefs hindurch erzählt.
Mit Spannung wird wohl mancher Georgien-Fan der Verkündung des Deutschen Buchpreises 2018 entgegensehen und Nino Haratischwili die Daumen drücken. Der Festakt ist jedoch nur ein Auftakt für ein wahres Lesefest, das georgische Autoren dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse präsentieren. Sie öffnen so ein Fenster in ein faszinierendes Land, das nur auf den ersten Blick unvertraut erscheint.