Schon vor Jahrhunderten nahm das Meer bei Migrationsbewegungen eine wesentliche Rolle ein. So zeigt es die Ausstellung „Europa und das Meer" im Deutschen Historischen Museum. Und sie dokumentiert auch, wie die Schifffahrt Menschen half, die einst unüberwindlichen Ozeane zu überqueren.
Im 19. Jahrhundert, zwischen 1840 und 1880, wanderten 15 Millionen Menschen aus ganz Europa in Richtung Übersee aus. Armut, politische oder religiöse Verfolgung oder die Suche nach neuen Lebensperspektiven waren die Hauptgründe. Den großen, fast Möbelstücken ähnlichen Koffern der Auswanderer begegnet man im Migrationszentrum Bremerhaven ebenso wie jetzt im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Und natürlich den Geschichten der Menschen, die das Vertraute hinter sich ließen, um Neues zu wagen. Und dabei einiges über sich ergehen lassen mussten – Bürokratie, medizinische Kontrollen, die bedrückende Enge in menschenüberfüllten Auswanderungshallen.
Nur in den Briefen und Aufzeichnungen sprechen die Ausreisenden eindrucksvoll von ihren Gefühlen während der zehn Wochen auf See. Da ist von schlimmer Seekrankheit die Rede, vom schlechten Essen und dem immer wieder aufkommenden Hunger und Durst. Die Ausstellungsstücke erzählen auch von der Angst, nicht nach Amerika einreisen zu dürfen. Denn wer keine zufriedenstellenden Antworten auf die 29 Fragen der Einreisebehörden liefern konnte, gehörte unter Umständen zu den zwei Prozent der Reisenden, die nach Europa zurückgeschickt wurden.
Auf Kosten der Reedereien.
Wichtige Handelsrouten
In der Schau im Deutschen Historischen Museum (DHM) ist Europa aber nicht nur Ausreise- sondern auch Einwanderungskontinent. Was Exponate wie beispielsweise das zerstörte Handy von Mohammed Ibrahimi zeigen, während seiner Flucht nach Europa das einzige Mittel, um Kontakt zu seiner Familie zu halten. Erschreckend dazu die Statistik – eine Liste stellt 33.293 registrierten Asylsuchenden die 25.000 Menschen gegenüber, die bis 2017 im Mittelmeer auf ihrer Flucht nach Europa ertranken. Oft ist man sich dessen im europäischen Alltag gar nicht so bewusst, dass der Kontinent von Meer umgeben ist und es rund 70.000 Kilometer Küstenlinie gibt. Den Namen Europa verdankt der Erdteil übrigens der Entführung der gleichnamigen phönizischen Prinzessin. Göttervater Zeus verliebte sich der Legende nach in sie, verwandelte sich in einen Stier und brachte Europa auf seinem Rücken übers Meer nach Kreta. In der Ausstellung wird diese Episode durch die Skulptur „Europa auf dem Stier" aus der Zeit etwa 500–475 v. Chr. (das älteste archäologische Objekt der Ausstellung) versinnbildlicht. Eine denkbar passende Einstimmung auf eine Schau, die, begleitet von sanftem Meeresrauschen, 2.500 Jahre Beziehung zwischen Europa und dem Meer nacherzählt.
Und so reist man auf 1.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche gewissermaßen von einer bedeutenden Hafenstadt zur nächsten. Die Antike mit ihren alten See- und Handelswegen sowie die technische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung prägten und vernetzten Europa über Jahrhunderte global. Ein wichtiger Aspekt seien dabei auch die Handelsrouten nach Mittelamerika gewesen, auf denen Sklaven transportiert wurden und dann später unter anderem Baumwolle nach Europa geschifft wurde, betonen die Ausstellungsmacher.
Ein großes, goldenes Modell eines Bucintoro aus dem Schifffahrtsmuseum in Venedig, ist der Hingucker im Themenbereich Seeherrschaft. Das Staatsschiff des Dogen wurde nur jährlich einmal zu einer sogenannten Vermählungsausfahrt benutzt – freilich im übertragenen Sinn. Denn Venedig „vermählte" sich dabei mit dem Meer, als Dank für den Reichtum, den es der Stadt bescherte. Auch heute noch wirft der Bürgermeister Venedigs zur „Festa della Sensa" einen goldenen Ring in das Meer. Die Seerepublik Venedig dominierte vom 12. bis zum 16. Jahrhundert uneingeschränkt den Seehandel, aber in Begleitung von Kriegsschiffen und mittels Stützpunkten, die die Seewege gegen Feinde schützten und kontrollierten. Seeschlachten wie 1581 gegen das Osmanische Reich waren die Folge – mehrere Gemälde dokumentieren in der DHM-Schau diese blutigen Auseinandersetzungen. Das Meer hatte eine neue Funktion, als Raum kultureller und militärischer Machtkämpfe.
Sehnsuchtsort Meer
Mit der beginnenden Kolonialpolitik im 15. und 16. Jahrhundert, der Entdeckung und Eroberung neuer Welten, eröffneten sich Europa über das Meer neue wirtschaftliche und politische Möglichkeiten. Die Spanier eroberten die Kanarischen Inseln, was mit der Unterdrückung der Einwohner und der Auslöschung ihres kulturellen Wissens einherging. Ein archäologischer Fund auf Gran Canaria aus der vorspanischen Zeit, „Das Idol von Tara", gibt in seiner kulturellen Bedeutung deshalb noch heute ungelöste Rätsel auf. Es werde jetzt in Berlin erst zum zweiten Mal außerhalb Spaniens gezeigt, erklärt Veronika Hager vom DHM. Insgesamt werden 400 kulturhistorische und zeitgenössische Exponate unterschiedlichster Leihgeber und aus museumseigenen Sammlungen präsentiert. Dazu gehören unter anderen Portolankarten von 1393, Seekarten, auf denen unter anderem Landmarken, Strömungen oder Leuchttürme eingezeichnet waren. Teil der Ausstellung ist aber auch ein Globus des Nürnberger Gelehrten Martin Behaim, ein Stück Transatlantikkabel von 1858 oder der Marinechronometer von John Arnold. Eine Mischung, die auf die verschiedensten Facetten des Themas verweist – die Ausstellung wurde in 13 Bereiche gegliedert.
Wichtig ist natürlich auch das Meer als Erholungsraum, als Sehnsuchtsort. Ganz klar, dass dem Kapitel Badetourismus ein Teil der Schau gewidmet ist – und dem „Geburtsort des Badetourismus", dem englischen Brighton. Dr. Richard Russell, ein britischer Arzt, beschrieb 1750 als erster die Heilwirkung des Meerwassers und empfahl gesundheitsfördernde Meerwassertherapien. Zunächst kamen Adlige und wohlhabende Bürger, um hier ihre Leiden auszukurieren – später hielt der Massentourismus Einzug. Damit eng verbunden waren auch die im 19. Jahrhundert entstehenden Seebrücken und Piers, die sich zu wichtigen gesellschaftlichen Treffpunkten mauserten. Der Urlaub am Meer wurde immer populärer, gar gehörte es zum „guten Ton", ein paar Wochen des Sommers in einem der Badeorte an der Küste zu verbringen. Auch die Reise auf dem Meer wurde touristisch immer bedeutender – bereits Ende der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts warben farbenfrohe Plakate der „Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft" für Reisen ins Nordmeer. Auch heute bleibt das Meer – so zeigt es die Ausstellung – Ankunfts-und Abschiedsort. Sowie ein Ort der Sehnsucht – hier treffend eingefangen mit Jochen Heins Triptychon „Nordsee".