Der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen" hat sich der Ex-Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, nicht angeschlossen. Ein Gespräch über politische Bewegungen, die Unlogik in der Politik und die Krise der gesellschaftlichen Linken.
Herr Gysi, wir treffen uns in Saarbrücken, ungefähr 400 Kilometer von Paris entfernt. Frankreich, die Seine-Metropole, war das erste westliche Ausland, das Sie 1988 als DDR-Staatsbürger besuchen durften. Wie war das?
Ich fand den Wirbel auf den Straßen ganz erstaunlich, im Vergleich dazu war es auf den Straßen der DDR sehr viel ruhiger. Ich stellte fest, dass es so viele verschiedene Autos gibt und dass ich die Namen nicht mehr lerne in meinem Leben. Ich war in einem Käseladen, da gab es über dreihundert Sorten, in meiner Kaufhalle gab es vier. Ich wurde in Gaststätten nicht platziert, sondern konnte mich hinsetzen, wo ich wollte. Ich habe eine Kundgebung gegen die Regierung gesehen, da schimpften sie, was das Zeug hielt – das imponierte mir sehr. Eine Sache hat mich entsetzt. Ich fuhr mit der Metro zum Louvre, um die Mona Lisa zu sehen, bezahlte den Eintritt, und war pleite. Wenn ich in der DDR in Dresden mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr und den Eintritt zu den Alten Meistern bezahlte, um die Sixtinische Madonna zu sehen, kostete es mich fast nichts. Seitdem ist für mich eine zentrale Frage die Chancengleichheit, ob ich allen den Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur ermögliche oder ob ich ihn mir finanziell leisten können muss.
Sie haben sich der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen" nicht angeschlossen. Warum?
Erstens haben mich Sahra und Oskar nie darum gebeten …
…das klingt aber beleidigt-mimosenhaft.
Ich bin ja noch gar nicht fertig. Das wäre viel breiter geworden. Ich hätte Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen erreicht, die Sie nicht erreicht können, ich hätte Grüne erreicht …
Das können Sie ja immer noch.
Moment, darf ich mal die Frage beantworten? Ich hätte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Künstler und Künstlerinnen erreicht, die sie nicht gewinnen konnten. Sie haben mich auch bis heute nicht gefragt. Klaus Ernst zum Beispiel sagt, er hätte Gewerkschafter erreichen können. Sahra und Oskar haben das immer als ihre Privatsache empfunden, das ist aber nicht so schlimm. Die Sammlung von SPD, Linken und Grünen ist ja an sich vernünftig, mal sehen, was dabei herauskommt. Aber es hat wohl einen ziemlichen Tiefschlag gegeben, dadurch, dass Sahra sich gegen die Demonstration in Berlin ausgesprochen hat. Ich habe folgende Erfahrung gemacht: Eine Bewegung, die Politik von A bis Z anbietet, geht nicht. Was geht, sind Bewegungen für ein Thema, beispielsweise gegen das Polizeigesetz in Bayern. Meine Sorge ist, die Bewegung wird nicht funktionieren, sie ist politisch zu breit, personell zu eng. Für ein breites Themenspektrum sind Parteien zuständig.
„Aufstehen" will sich dem „Weiter so" widersetzen und der AfD Einhalt gebieten. Das muss ja in ihrem Sinne sein.
Ja, aber das glaube ich nicht.
Sie glauben das nicht?
Ich glaube, dass es letztlich um andere Ziele geht. Ich habe doch nichts dagegen, gegen die AfD vorzugehen, aber wenn Sahra dann sagt, sie ist gegen die Berliner Demonstration, weil offene Grenzen „voller Wahnsinn" seien, dann klatscht die AfD. Die Aufgabe der Linken, und einer solchen Bewegung, wäre, auf die Fluchtursachen hinzuweisen und auf die Schritte, die man gehen müsste, um sie zu überwinden. Dass die ganze Menschheit in Deutschland keinen Platz hat, weiß jeder, davon muss ich keinen überzeugen.
Sie sagen: „Der Mangel an Logik zerstört die Glaubwürdigkeit von Politik." Ich beobachte keine Politik-, aber eine Politikerverdrossenheit bei den Bürgern und Bürgerinnen.
Man kann auch sagen: der Mangel an Logik bei Politikern. Ein Beispiel: Mir ist erklärt worden, der Krieg gegen Jugoslawien müsse im Interesse der Durchsetzung der Menschenrechte im Kosovo geführt werden. Und jetzt wird mir erklärt, dass wir ein Hauptlieferant für Waffen an Saudi-Arabien sein müssen, das täglich die Menschenrechte verletzt und Krieg im Jemen führt. Was nun? Sind nun die Menschenrechte so wichtig, dass man sogar völkerrechtswidrig Krieg führt, oder sind sie so unwichtig, dass man trotzdem Waffen liefern kann und dieses Land Krieg führt? Die Menschen merken, Argumente werden so benutzt, wie man sie gerade braucht.
Aber Politikerverdrossenheit ist …
… genauer. Aber die Unlogik kommt ja nicht aus der Politik, sondern von den Politikern!
Viele Politiker sind vom wahren Leben entfernt. Frau Merkel hat in der ZDF-Sendung „Klartext" vor der Bundestagswahl eine Reinigungskraft mit 1.050 Euro Einkommen gefragt, ob sie denn nicht privat für ihre Rente vorgesorgt habe.
Ja (lacht). Ich lache über die Blödheit der Frage von Frau Merkel. Sie kann sich das Leben der Reinigungskraft nicht vorstellen. Die Frage ist völlig daneben, weil die Reinigungskraft niemals eine Chance hatte, privat vorzusorgen.
„Wir müssen die Demokratie attraktiver machen", sagen Sie.
Ja, ganz wichtig. Ich stelle einen zunehmenden Hang zu Despoten fest. Ein Despot hat vorübergehend einen Vorteil, den die Leute sehen: Er kann Dinge schneller durchsetzen. Setzt er etwas durch, was ihren Vorstellungen entspricht, sagen zu viele: ‚Das ist doch fantastisch, in der Demokratie wird zu lange diskutiert.‘ Was sie alle vergessen, ist: Einen Despoten wird man nie wieder los. Wenn er Politik gegen ihre Interessen macht, haben sie keine Chance. Das kenne ich nun aus eigener Erfahrung. Ich stelle fest: Die Leute wählen eben Trump, Erdoğan und Orbán. Ich möchte von unseren demokratischen Politikern und Politikerinnen, dass sie sich jetzt darüber Gedanken machen, aber sie machen immer nur so weiter und merken gar nicht, dass wir vor gewaltigen Herausforderungen stehen und wenn wir denen nicht anders begegnen, unsere Chancen abnehmen.
Die Wahlbeteiligung steigt.
Es geht mir nicht allein um die Wahlbeteiligung. Für die, die die AfD wählen, ist ja nicht die Demokratie attraktiv, sondern nur der Protest. Das verstehe ich zwar, das ist ja durchaus legitim, aber doch nicht so. Dadurch, dass die Leute Politikern und Politikerinnen nicht mehr trauen, trauen sie auch den Entscheidungen nicht mehr, und das führt dazu.
Warum kommt die Linke grundsätzlich nicht voran?
Die Grünen gelten als das Gegenüber zur AfD und wir leider nicht, darüber müssen wir uns Gedanken machen. Die gesellschaftliche Linke ist in einer Krise. Sie hatte im Staatssozialismus die Chance, eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus aufzubauen. Das ist ihr nicht gelungen. Es gibt ein gewisses Misstrauen gegen die Linke. Die Leute wissen, dass wir demokratisch sind, solange wir Opposition sind. Aber wie sind wir, wenn wir wirkliche Macht haben? Gibt man sie auch wieder her? Beispiel Venezuela, Beispiel Nicaragua. Deshalb sage ich meinen Linken immer wieder, diesbezüglich müssen wir so glaubwürdig wie möglich sein und immer wieder unter Beweis stellen, dass wir selbstverständlich auch Macht loslassen, wenn wir nicht mehr gewollt sind. Ich glaube, dass viele mir unterstellen, dass ich loslassen kann, aber sie unterstellen es noch nicht der Linken. Ein weiterer Punkt: Die Linke ist nicht einig in einer zentralen Frage. Die einen glauben, man muss auf die Herausforderungen national, und die anderen, man muss internationalistisch reagieren. Ich sehe da nicht den Kompromiss, das ist meine Sorge.
Manchmal wird gesagt, dass sich Parteien zunehmend ähnlicher werden. Stimmt es, dass die Linke in den Fragen Aufrüstung, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und Nato eine Haltung einnimmt, die sich grundlegend von anderen Parteien unterscheidet?
Ja, und zwar von allen. Wir sagen, wir brauchen eine neue Struktur für die europäische Sicherheit. Dazu müsste man die Nato, die im Kalten Krieg entstanden ist, auflösen und ein neues Bündnis machen unter Einbeziehung von Russland. Die Bundeswehreinsätze sind völlig falsch. Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure und sendet immer mehr Soldaten ins Ausland. Frau von der Leyen will auch welche nach Syrien entsenden, damit wir noch Bestandteil des Nahostkonflikts werden. Alles der reine Wahnsinn. Wenn wir eine Vermittlerrolle anstrebten, müssten wir diese Schritte gehen: Der Bundestag müsste mit Mehrheit beschließen, die USA aufzufordern ihre Atomwaffen und Drohnen aus Deutschland abzuziehen. Wir müssten zu Trump sagen, dass wir nicht zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben werden. Im nächsten Jahr sind schon 43 Milliarden Euro geplant, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bedeuteten 75 Milliarden Euro. Eine größere Verschleuderung von Steuergeldern kann ich mir gar nicht vorstellen. Und: Wir müssten ernsthaft beginnen, die Soldaten von den Auslandseinsätzen zurückzuholen und die Rüstungsexporte deutlich zu reduzieren.
Sie sind Vorsitzender der Europäischen Linken. Im Frühjahr stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Welche Themen diskutieren Sie mit den Europäischen Linken?
Es geht natürlich darum, welche Rolle die Europäische Linke spielen kann. Ich meine, dass wir das Gegenüber zur gesamten Rechtsentwicklung in allen Ländern Europas werden müssen, dass wir die soziale Frage in den Vordergrund zu stellen haben und die ökologische Nachhaltigkeit, allerdings in sozialer Verantwortung.
Albanien ist Beitrittskandidat zur Europäischen Union. Unterstützen Sie dies?
Im Kern bin ich immer dafür, dass wir europäische Länder in die EU aufnehmen, allerdings sage ich immer dazu: zum richtigen Zeitpunkt. Ich sage ganz ehrlich, dass wir Osteuropa zu früh aufgenommen haben.
Stehen Sie mit Oskar Lafontaine in regelmäßigem Gedankenaustausch?
Nein. Ab und zu wechseln wir SMS.
Hält die Groko die Legislaturperiode durch?
Eigentlich dürfte sie nicht durchhalten. Aber die Union hat keinen Grund,0 sie aufzugeben. Und die SPD hat zwei Eigenschaften: Erstens ist sie sehr leidensfähig, zweitens schadet sie sich gerne selbst (lacht).