Unser Gedächtnis präsentiert sich nicht nur häufig als unverlässlich und labil, es kann auch ziemlich leicht durch fiktive Erinnerungen manipuliert werden. Fast alle Menschen können sich daher an Ereignisse entsinnen, die niemals so in ihrem Leben passiert sind.
Die Frage ist nicht, ob eine Erinnerung falsch ist ‒ sondern wie falsch sie ist." Mit diesem auf den ersten Blick verblüffenden Statement machte die deutsch-kanadische Psychologin Julia Shaw, so etwas wie der neue Shootingstar der Gedächtnisforschung, auf das Phänomen aufmerksam, dass sich fast alle Menschen an Dinge oder Ereignisse erinnern, die tatsächlich so niemals stattgefunden haben. Unser Gedächtnis ist keine Festplatte, die einmal Erlebtes fest und unveränderlich konserviert, sondern stetig verändert. Bei jedem neuen Abrufen kann das Gehirn das Abgespeicherte in einen neuen Kontext rücken, mit neuen Details ausschmücken oder gar gänzlich verzerren. Die Wissenschaft spricht dann von „Fictional Memories": fiktiven, konstruierten Erinnerungen.
„Das Gedächtnis speichert Ereignisse nie genau so, wie sie passiert sind", erklärt Prof. Hannah Monyer, Neurobiologin und ärztliche Direktorin des Universitätsklinikums Heidelberg. „Es selektiert schon in einem ganz frühen Stadium, noch bevor die Erinnerung im Gehirn verankert ist, was es für wichtig hält und was nicht. Es wird daher nichts genau so erinnert, wie es wirklich war."
Und die Mnestik, wie das Gedächtnis auch genannt werden kann, ist auch stark anfällig für Manipulationen. „Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia", sagt die renommierte US-Psychologin Prof. Elisabeth Loftus, die mit ihren schon in den 80er-Jahren entwickelten suggestiven Befragungsmethoden die frühe Pionierin bei der Erforschung falscher Erinnerungen war. „Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch." Julia Shaw, die nach dem gleichen von den Therapeuten übernommenen Prinzip wie ihr Vorbild Loftus arbeitet und Autorin des Bestsellers „Das trügerische Gedächtnis" ist, hatte 2015 ein spektakuläres Experiment gewagt und als selbsternannte „Gedächtnis-Hackerin" Probanden durch gezielte Suggestion falscher Erinnerungen dazu gebracht, sich eines Verbrechens zu bekennen, das sie niemals begangen hatten.
Als Ausgangspunkt für ihre Studie bat sie die Eltern der Versuchspersonen, diesen von einer vermeintlichen durch sie während der Jugendjahre begangenen Straftat – etwa einem Diebstahl oder einem tätlichen Angriff – zu berichten. Danach sprach sie die Probanden in drei Sitzungen immer wieder auf das entsprechende Ereignis an. Beispiel: „Du warst elf Jahre. Da war dieser Junge, Frank, der dich gemobbt hat. Bis du ihm eines Tages auf dem Schulhof die Nase gebrochen hast. Die Polizei kam zu dir nach Hause. Was war das für ein Gefühl?" Nach der letzten Befragung war es ihr bei 70 Prozent der Probanden gelungen, die anfängliche Skepsis zu überwinden und sie zur Schilderung der von ihr frei erfundenen Episode in allen Einzelheiten mit jeder Menge ausschmückender Details zu bringen. Im genannten Beispiel erzählte die Probandin, wie das Blut aus der Nase gespritzt war, welchen Hass und welche Angst sie beim Auftauchen der Polizei verspürt hatte.
Infantile Amnesie in früher Kindheit
Das Erinnerungsvermögen gilt als zentraler Teil unserer Persönlichkeit. Umso erstaunlicher ist es, wie form- und wandelbar es offenbar ist. „Erst das Gedächtnis stattet uns mit einer individuellen Persönlichkeit und einer Ich-Perspektive aus und lässt uns dadurch zu kulturellen Wesen werden", schrieb der Neurobiologe Prof. Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig in seinem Buch „Wir sind Gedächtnis". „Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis ‒ und unser Gedächtnis sind wir", erklärt Korte. Allerdings ist es mit der Verlässlichkeit unseres Erinnerungsvermögens nicht allzu weit her, wie eine im Juli im Fachmagazin „Psychological Science" veröffentlichte Studie mal wieder eindrücklich unter Beweis stellte.
Ein britisches Forscherteam unter Leitung der Psychologin Shazia Akhtar von der City University London hatte in einer Online-Umfrage 6.641 Probanden nach der frühesten Erinnerung ihres Lebens befragt. Sie sollten die Begebenheit möglichst detailliert beschreiben und zusätzlich angeben, in welchem Alter sie sich genau abgespielt hatte. 38,6 Prozent der Teilnehmer, genau waren es 2.487 Personen, erzählten von einem Ereignis aus den ersten beiden Lebensjahren, 893 sogar aus den ersten zwölf Monaten ihres Daseins. Ein mehr als problematisches Ergebnis, weil die moderne Forschung davon ausgeht, dass sich Erinnerungen erst ab einem Alter von etwa dreieinhalb Jahren abrufen lassen. Grund dafür ist, dass das Gehirn sich davor noch stark verändert. Der für das Langzeitgedächtnis wichtige Hippocampus ist bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend ausgebildet, und Gedächtnisspuren können noch nicht richtig versprachlicht werden. Sie bestehen noch aus später kaum mehr abrufbaren Bildern und Gefühlen. Laut Julia Shaw gibt es bis zum Alter von dreieinhalb Jahren „meist eine Komplettamnesie, bis etwa zwölf Jahre eine Teilamnesie." In der Forschung hat sich für die Unfähigkeit, sich an Ereignisse aus der frühesten Kindheit zu erinnern, der Fachbegriff „Infantile Amnesie" eingebürgert.
Die britischen Forscher mussten daher nach einer Erklärung für die fiktiven Erinnerungen ihrer Versuchsteilnehmer suchen. Ihrer Meinung nach hatten diese Fragmente realer, aber wohl späterer Erinnerungen baukastenähnlich mit Geschichten, Fotos oder auch Videoaufnahmen, die in der Familie zur Dokumentation der frühen Lebensjahre gesammelt worden waren, zusammengesetzt. Die Wissenschaftler versuchten dies mithilfe eines Kinderwagen-Beispiels zu erklären: „Diese Erinnerung kann daraus resultiert haben, dass jemand etwas sagt wie ‚Mutter hatte einen großen grünen Kinderwagen‘. Die Person stellt sich dann vor, wie der ausgesehen hätte. Mit der Zeit werden diese Fragmente zu einer Erinnerung, und oft beginnt die Person dann, Details hinzuzufügen ‒ etwa eine daran aufgehängte Kette von Spielzeugen." Die fiktiven Erinnerungen werden dadurch nach und nach fester Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte. „Man internalisiert, was man vielleicht von den Eltern gehört hat", sagt der Psychologe Hans Joachim Markowitsch von der Universität Bielefeld. „Später kann man dann oft nicht mehr auseinanderhalten, was nacherzählt ist und was authentisch."
Während fiktive, nicht (ganz) der Wahrheit entsprechende Erinnerungen im privaten Bereich allenfalls für Irritationen sorgen können, sind sie in der Strafverfolgung oder vor Gericht hochproblematisch und können über Schicksale entscheiden. Davon kann Julia Shaw, die regelmäßig für Polizei und Justiz Workshops zu dem sensiblen Themenbereich veranstaltet und häufig als Gutachterin bei strittigen Prozessen hinzugezogen wird, ein Lied singen: „Ich sehe wahrscheinlich nur die extremen Fälle. Erst wenn etwas ganz Unglaubwürdiges passiert ist oder sein soll, kommen Anwälte auf die Idee, mich dazuzuholen." Wobei Zeugen, die nicht die Wahrheit sagen, in der Regel nicht bewusst lügen. Sie erinnern sich einfach falsch, haben wesentliche Faktoren nicht richtig eingeschätzt oder sind durch die Beeinflussung Dritter zu einem unzutreffenden Bild der Situation gekommen. Problematisch sind bei einer Vernehmung vor allem Suggestivfragen. Auch pflegen Rechtspsychologen zunächst einmal zu klären, ob Aussagen spontan oder erst im Verlaufe mehrerer Anhörungen zustande gekommen sind.
Die wichtigste Lebensphase für unser Gedächtnis, bei dem Julia Shaw zwei Arten unterscheidet, nämlich das für Zahlen, Daten und Fakten zuständige semantische Gedächtnis und das autobiografisch-episodische Gedächtnis, ist übrigens das Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Aus dieser Zeit stammt ein großer Teil unserer Erinnerungen. „In diese Phase fallen die größten Umbrüche im Leben ‒ die Jugend, das selbstständige Leben, die Partnerschaft, Studium oder Berufsanfang", erklärt Markowitsch. Bleibt nur noch die Frage zu klären, wie sich Ereignisse überhaupt in unserem Kopf einprägen. „Die einströmenden Reize durchlaufen verschiedene Verarbeitungsebenen im Gehirn von der Wahrnehmung bis zur rationalen Bewertung", sagt der Psychologe Prof. Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg. „Aus einströmenden Reizen werden Erinnerungsepisoden, die man irgendwann autobiografisch abspeichert." Das Gedächtnis, für das es in unserem Kopf keinen genau abgrenzbar umfassenden Bereich gibt, übernimmt also keineswegs wahllos alles, was ihm angeboten wird, sondern nur das, was dem Gehirn wichtig erscheint.