Die CDU steht in der größten Umbruchphase seit knapp zwei Jahrzehnten. Der saarländische CDU-Landeschef, Ministerpräsident Tobias Hans, im FORUM-Redaktionsgespräch über Chancen für die Partei, Leidenschaft in der Politik, Zukunft der Volkspartei und konservative Werte.
Herr Hans, sie haben bei der Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer Wert darauf gelegt, das in beiden Funktionen, Ministerpräsident und Parteivorsitzender, zu tun. Die Entscheidung von Frau Merkel zur Trennung der Spitzenpositionen ist viel diskutiert worden. Mehr Chancen oder mehr Risiken für die Union?
Für die Bundespartei ist das eine große Chance, die wir auch nutzen müssen. Angela Merkel ist seit 18 Jahren Bundesvorsitzende, und die CDU ist den größten Teil dieser Zeit in der Regierungsverantwortung. Nun bietet sich für uns die Möglichkeit, dass wir uns als Partei in der Regierung inhaltlich wie personell neu aufstellen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, viele Parteien konnten sich nur über den Weg in die Opposition erneuern. Mitentscheidend ist, dass Angela Merkel mit dem Rückzug vom Parteivorsitz mittelfristig auch den Rückzug vom Amt der Bundeskanzlerin verbindet. Deshalb ist es in dieser Phase des Übergangs sinnvoll, von dem an sich sehr bewährten Grundsatz abzuweichen, wonach beide Ämter in eine Hand gehören.
Ist damit die anstehende Personalentscheidung im Dezember eine Doppelentscheidung: Parteivorsitz und später Kanzlerkandidat?
Der oder die neue Vorsitzende muss zunächst einmal wirklich Lust haben, Parteivorsitzender zu sein. Er oder sie muss eine ordentliche Portion Leidenschaft mitbringen, die Partei mit Leben zu erfüllen. Ansonsten wird es uns nach einer so schwierigen Phase, durch die wir jetzt in der Bundesregierung gegangen sind, nicht gelingen, die Menschen noch einmal zu begeistern. Und gerade darauf wird es ankommen. Deshalb muss, wer antritt, gerade das Wohl der Partei im Auge haben. Und da ist mir bei der amtierenden Generalsekretärin nicht bange.
Es geht dabei auch um einen inhaltlichen Entscheidungsprozess. Wie sortiert sich der zurzeit?
Nach meinem Eindruck gibt es ein großes Bedürfnis an der CDU-Basis, dass eine Persönlichkeit an die Spitze kommt, die es schafft, zu integrieren. Wir haben zweifelsohne eine große Diskussion über die künftige Richtung der CDU. Da gibt es jene, die an der Seite der CSU versucht haben, das konservative Element zu stärken. Und es gibt andererseits diejenigen, die meinen, wir müssen uns eher nach links öffnen. Ich glaube, es muss uns gelingen, all unsere Flügel wahrlich zum Schlagen zu bringen. Nur dann werden wir es schaffen, auch in Zukunft Volkspartei zu bleiben. Dafür braucht es eine integrierende Figur. Und da ist klar, dass ich hierfür Annegret Kramp-Karrenbauer für am geeignetsten halte.
Angesichts der Entwicklung stellt sich die Frage: Haben Volkparteien ausgedient?
Das glaube ich nicht. Aber wir müssen es wieder schaffen, die Mehrheit der Menschen hinter uns zu versammeln – und nicht zu polarisieren. Das ist zuletzt in der Amtszeit von Angela Merkel passiert. Das ist auch ein Stück weit gut, weil sie in wichtigen Fragen für unser Land Kurs gehalten hat. Aber es hat eben auch dazu geführt, dass sich Menschen von uns abgewendet haben. Deshalb ist jetzt die Zeit, in der wir uns nochmal fragen müssen: Wofür steht CDU? Was ist christdemokratische Politik im 21. Jahrhundert? Wie schaffen wir den Brückenschlag von einer Partei, die vom Grundsatz her konservativ ist, die aber auch den Anspruch hat, die Zukunft des Landes maßgeblich zu gestalten? Da lohnt es sich, zuzuhören, was unsere Parteibasis denkt. Deshalb setze ich viel auf das neue Grundsatzprogramm und dessen Entwicklung. Unsere Partei muss lebendiger werden. Wir dürfen Parteitage nicht mehr als reine Abnick-Veranstaltungen sehen, das lockt keinen mehr hinter dem Ofen hervor.
Klingt nach einer großen Herausforderung, gerade auch angesichts jüngster Wahlergebnisse …
Schauen Sie sich die Wählerschichten an, die wir in Hessen verloren haben: Die Älteren, die sich abgehängt gefühlt haben vom Kurs der Union, sind zur AfD gegangen. Die Jüngeren sind eher zu den Grünen gegangen, weil die Themen wie Nachhaltigkeit oder Bewahrung der Schöpfung nach vorne bringen. Da liegt es an uns, wieder deutlich zu machen: Wir sind die Partei, der es am ehesten gelingt, unser Land erfolgreich in die Zukunft zu führen. Wir sind nicht diejenigen, die irgendeinem Zeitgeist hinterherlaufen, sondern die ihn bestimmen wollen. Aus der personellen und inhaltlichen Erneuerung ergibt sich daher auch die Chance, als Partei noch mal wirklich spannend zu werden. Wenn wir spannend sind, bekommen wir auch neue Mitglieder. Wenn wir neue Mitglieder bekommen, sind wir breiter aufgestellt und bleiben Volkspartei. Das muss unser Ziel sein.
Sie haben sich selbst als im besten Sinn konservativ bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Ein moderner Konservativer ist jemand, der bei aller technischen Entwicklung und allem Fortschrittsdenken nicht den Blick verliert für den Kitt unserer Gesellschaft. Für das, was unser Miteinander im Kern ausmacht. Deshalb sage ich auch ganz offen: Wir müssen manchmal wieder mehr auf das achten, was wir mitbekommen haben von zu Hause, von unserer Umgebung, unserem Freundeskreis. Nämlich, wie man miteinander umgeht, sich Zeit nimmt für ein persönliches Gespräch, aufeinander achtet in der Nachbarschaft, aber auch gegenüber fremden Menschen. Wenn wir etwa im Bus oder Zug sitzen und sehen, dass es jemandem nicht gutgeht: Sprechen wir ihn dann an oder schreiben wir etwas darüber auf Twitter? Für uns als CDU muss es darum gehen, die Werte im Umgang miteinander hochzuhalten – gerade auch in einer Zeit, in der wir ohne Zweifel auf eine Modernisierung der Gesellschaft setzen müssen. Deswegen glaube ich, dass gerade die Union mit ihrem Wertebewusstsein besser in der Lage ist, den Fortschritt zu gestalten.
Was leiten Sie daraus konkret ab?
Die Digitalisierung wird dem Saarland den nächsten Strukturwandel bringen, das ist klar. Dabei muss es uns aber gelingen, dass die Menschen den Wandel als etwas empfinden, das ihnen vor allem nutzt. Medizinische Versorgung im ländlichen Raum geht etwa durch die Digitalisierung leichter. Vereinbarkeit von Familie, Kindererziehung und Beruf – auch das sind Beispiele, an denen man sieht, dass sich Tradition und Werte mit dem Fortschritt gut in Einklang bringen lassen können.
Als Lehre aus der Großen Koalition haben Union und SPD gesagt, sie müssten wieder erkennbarer werden. Liegt darin aber nicht eine Ursache für die Konflikte der letzten Monate?
Natürlich muss man in Koalitionen immer Kompromisse eingehen. Doch gerade in dieser Situation ist es auch unerlässlich, deutlich zu machen, wofür man als Partei eigentlich steht. Dabei ist es mir aber in der letzten Zeit zu oft vorgekommen, als hätten wir nur einen Wettstreit der Ideologien praktiziert und vor allem gesagt, was mit uns nicht geht. Dabei müssten wir vielmehr einen Wettbewerb um die besten Ideen führen. Das gilt sowohl innerparteilich als auch im Verhältnis mit unserer Schwesterpartei CSU, aber auch mit unserem Koalitionspartner SPD und den anderen Parteien. Ein Beispiel: Wir als Union stehen, wie die Grünen, für die Bewahrung der Schöpfung. Aber da gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen uns und den Grünen, etwa beim Schutz des ungeborenen Lebens. Da muss die Union stärker deutlich machen, dass das für uns nicht verhandelbar ist. In der Debatte um ein Werbeverbot für Abtreibung etwa zeigen sich diese Unterschiede, und die müssen wir stärker herausarbeiten.
Der Eindruck der letzten Zeit ist aber, dass eher persönliche Auseinandersetzungen dominieren …
Eine Auseinandersetzung um die besten Lösungen für unser Land ist gut. Aber wenn man sich nur noch über Personal streitet, wie es die Berliner Koalition lange gemacht hat, schwindet die Zustimmung. Die Leute erwarten, dass wir Sacharbeit machen und Lösungen für drängende Probleme liefern. Da war die Bundesregierung gar nicht mal schlecht. Horst Seehofer hat eingeladen zur Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse", was eines der zentralen Themen ist. Wir müssen dafür sorgen, dass im ländlichen Raum und in den Städten gleichwertige Lebensbedingungen herrschen. Oder der Wohnungsgipfel und das Gute-Kita-Gesetz, das Millionen ins Saarland für bessere Bedingungen in unseren Betreuungseinrichtungen bringen wird. Ebenso der Digitalpakt Schule, das alles sind gute und wichtige Projekte. Nur hat man in die Umsetzung nicht so viel Energie gesteckt wie in den Streit um personelle Fragen. Genau das nehmen die Menschen übel. Und es wird ein langer Weg, das wieder gutzumachen.
Alles nur eine Frage des Marketings?
Es ist sicherlich auch eine Frage der Führung. Auch im Unionsstreit gilt: Ein Bock stößt nicht alleine. Der Zustand der Zusammenarbeit war nicht zufriedenstellend. Angela Merkel hat eine Konsequenz gezogen, und ich glaube, das ist auch stilbildend für die Frage, wie man damit umgehen kann. Damit haben wir in der CDU, aber auch in der Regierung, eine neue Chance, es einfach besser zu machen.
Sie haben bei Ihrer Wahl zum Landesvorsitzenden eine kräftige Rolle der CDU Saar bei der Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm angekündigt, dabei auch auf die letzten Wahlergebnisse verwiesen. Die CDU Saar als Vorbild für die CDU Deutschland?
(lächelt) Die CDU Saar hat es in jetzt nahezu zwei Jahrzehnten Regierungsverantwortung immer wieder geschafft, sich zu erneuern. Wir haben den Übergang von Peter Müller zu Annegret Kramp-Karrenbauer (Anmerkung: im Jahr 2011) erfolgreich geschafft. Und wir haben in diesem Jahr einen viel beachteten Wechsel bei laufendem Motor hinbekommen, ohne dass es zu nennenswerten Dissonanzen gekommen ist. Das zeichnet die CDU hier im Saarland aus: Wir können geschlossen auftreten, wir sind aber auch eine Partei, die miteinander trefflich diskutiert und um gute Lösungen ringt. Wir können hart in der Sache diskutieren, leidenschaftlich streiten, aber am Ende geschlossen auftreten. Das hat auch etwas zu tun mit Haltung in Zeiten des Umbruchs.
Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer hat zur Vorbereitung des Grundsatzprogramms eine Zuhörtour durch die ganze Republik absolviert. Eine Empfehlung an die gesamte Berliner Politik: Mehr zuhören – weniger Statistiken lesen?
(lacht) Vor allem muss es die Berliner Politik wieder schaffen, im gesamten Land stärker präsent zu sein. Das ist ja auch der Charme, dass die Partei jetzt mit Annegret Kramp-Karrenbauer jemanden hat, die keinen anderen Job hat und sich ganz der Partei widmen kann. Sie ist viel im Land unterwegs und kann so etwa aufnehmen, was den Kreis- oder Bezirksverband vor Ort interessiert. Das ist leider nicht mehr selbstverständlich in der Berliner Republik, die wir mittlerweile geworden sind. Für uns als Politiker insgesamt ist es wichtig, dass wir nicht eine Politik unter einer Käseglocke betreiben – denn dann hat man nicht mehr die Wahrnehmung von dem, was im Land wirklich vorgeht. Da reicht es auch nicht, auf Facebook oder Twitter unterwegs zu sein. Wir müssen den Menschen mit offenem Visier begegnen. Das habe ich als Ministerpräsident schon in den letzten Monaten intensiv getan und werde es auch weiter pflegen.
Im kommenden Jahr stehen im Saarland auch Kommunalwahlen mit einer Vielzahl von Direktwahlen ins Haus. Eine „kleine Landtagswahl" und erster Test für den neuen Ministerpräsidenten und eine CDU unter neuer Führung?
Man sollte nicht den Fehler machen, der Kommunalwahl einen Stempel aufzudrücken und sie zum landespolitischen Großthema zu machen. Denn es geht um die Zukunft unserer Städte und Gemeinden. Deshalb war es mir von Anfang an wichtig, die Kommunen weiter zu stärken. Nach der Sanierung des Landeshaushalts haben wir nun auch zusätzliche und maßgebliche Erleichterungen für die Kommunen auf den Weg gebracht. Dabei haben wir uns in der Koalition auf 50 Millionen Euro pro Jahr geeinigt, mit denen wir die Kommunen unterstützen wollen. Wir brauchen mehr Leidenschaft für die Kommunalpolitik, denn es gibt keine Unterschiede zwischen großer und kleiner Politik. Die Arbeit in den Orts-, Gemeinde- und Stadträten ist ebenso wichtig wie die Arbeit der Vollzeitparlamentarier. Die Frage, ob es im Saarland lebenswert zugeht, spielt sich in erster Linie in den Kommunen ab. Bei den kommunalpolitischen Fragestellungen spielt die Musik, auch wenn es darum geht: Fühle ich mich wohl in meinem Land?
Nächstes Jahr steht der Brexit ins Haus, im Mai sind Europawahlen, und man gewinnt den Eindruck, in Berlin gibt es keine wirkliche Europapolitik, allenfalls eine nationale Politik für Brüssel. Täuscht die Beobachtung?
Wir müssen uns noch mal bewusst machen, was der Kern christdemokratischer Politik war: Deutsche Einheit und europäische Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Das dürfen wir nie vergessen. Markenkern der Union muss eine Politik sein, die sich an den Interessen Deutschlands orientiert und die sich zugleich zu Europa bekennt. Dabei dürfen wir die Definition, was Nation ist, nicht den Rechtspopulisten und Rechtsradikalen überlassen. Ich möchte zum Beispiel keine Parallelgesellschaften in Deutschland. Deshalb erwarte ich auch, dass, wer in Deutschland lebt und wer deutscher Staatsangehöriger ist, sich klar zu unserem freiheitlichen Grundverständnis bekennt.