Wer stirbt und für eine Organspende geeignet ist, hat in den seltensten Fällen einen ausgefüllten Organspendeausweis dabei. Im Todesfall müssen dann die Angehörigen diese schwierige Entscheidung stellvertretend treffen. Eine große psychische Belastung – auf Jahre hinaus. Das Netzwerk Spenderfamilien bietet Hilfe und hat schon einen politischen Erfolg erreicht.
Es muss ein besonders bewegender Moment gewesen sein für Marita Donauer aus dem pfälzischen Kindsbach, als sie ihrem Bruder den anonymen Brief vorlas. Er sei 40 Jahre alt, schrieb der Absender, dessen Name unkenntlich gemacht worden war. Und er habe seit seinem fünften Lebensjahr nun das erste Mal wieder tief durchatmen können. Es war ein Dankesbrief. Der Mann hatte vor einem halben Jahr die Lunge ihres Bruders erhalten. Hatte den Brief an die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) geschickt, die die Vermittlung der Lunge organisiert hatte, und die DSO hatte ihn anonymisiert weitergeleitet. Ausgerechnet die Lunge, dachte Marita Donauer, das muss ich jetzt meinem Bruder vorlesen, dem Kettenraucher. Sie war zum Friedhof geeilt. Dort saß sie jetzt am Grab ihres Bruders und las laut vor. Das hätte er sicher auch nicht erwartet. Ausgerechnet die Lunge.
Dieses einschneidende Erlebnis hatte Marita Donauer 2006. Zehn Jahre später fiel die Möglichkeit des Briefe-Nachsendens aus Datenschutzgründen weg. Marita Donauer gründete das Netzwerk Spenderfamilien, das 2017 seine Arbeit aufnahm. „Als mein Bruder beerdigt war, hielt ich die Sache für abgeschlossen. Doch zwei Monate später schrieb mir die DSO: Karl hat sieben Menschen helfen können." Das Schreiben baute sie enorm auf, und sie fand sich darin bestätigt, damals für ihren Bruder richtig entschieden zu haben. Solche Briefe wieder zu erlauben, dafür kämpft das Netzwerk Spenderfamilien – mit Erfolg. Dazu später mehr. Doch wie war das eigentlich mit der Organspende?
Alles begann 2006 mit einem Anruf im Urlaub. „Ich war damals mit meinem Mann in Rom, als das Telefon klingelte. Komm schnell her, dein Bruder stirbt. Wir reisten sofort zurück." Der Bruder, gerade frisch geschieden, lag mit einer Hirnblutung im Koma. Es sah schlecht aus, die Ärzte konnten die Blutung nicht stillen. Dann der nächste Schock. „Direkt nach der erfolglosen OP wurde ich von einer unerfahrenen, überforderten Ärztin angesprochen, ob ich mir schon mal Gedanken über Organspende gemacht hätte." Das fand sie sehr ärgerlich. Ihr Bruder lebte doch noch. Der Oberarzt distanzierte sich von diesem Vorfall, kämpfte noch zwei Tage um das Leben seines Patienten. Doch dann musste er die Diagnose mitteilen: Hirntod. Jetzt war es wirklich so weit gekommen. Das sogenannte Entnahmegespräch stand an. Der Bruder hatte keinen Organspendeausweis. Die Entscheidung lag bei ihr. Der Arzt empfahl den Klinikseelsorger, der auch sofort kam. „Er verhielt sich ganz neutral", erinnert sich Marita Donauer. Mit ihrem Mann hatte sie die Sache bereits durchgesprochen. Eine Organspende wäre im Sinne ihres Bruders, entscheid sie, und sagte Ja. Das Aufzählen der einzelnen Organe zur Freigabe empfand Sie jedoch als merkwürdige Situation. „Stopp! Nehmen Sie einfach, was geeignet ist!" Gesagt, getan. Multiorganspende. „Dennoch sah der Leichnam nicht entstellt aus", berichtet die Schwester. „Auch nicht die Augen, trotz Hornhautentnahme. So konnten auch seine beiden Kinder von ihm Abschied nehmen, ihn berühren."
Ein weiteres Erlebnis, dass Marita Donauer zur Gründung des Netzwerks Spenderfamilien veranlasste, war der Verlust ihrer Kusine. „Wir hatten unsere Kindheit zusammen verbracht", erinnert sie sich. Die Kusine war schwer krank und wartete lange auf eine Spenderlunge. Vor drei Jahren kam sie endlich oben auf der Warteliste an – doch sie überlebte die Transplantation nur ein Vierteljahr. „Sie war zu geschwächt, weil sie zu lange warten musste. Das hat mir das Herz gebrochen", erzählt Marita Donauer.
Über den Kontakt zu Jutta Riemer vom Verein Lebertransplantierte Deutschland e. V. kam es zur Gründung des Netzwerks Spenderfamilien. Was macht diese Initiative? In erster Linie den Austausch mit weiteren Betroffenen organisieren. Positiv über Organspende aufklären. Das Negativerlebnis mit der jungen, wenig einfühlsamen Ärztin damals hat Donauer weggesteckt. „Meine Erfahrungen mit der Organspende sind positiv." Doch viele Angehörige brauchen Beistand. Viele haben negative Erfahrungen gemacht, manche hadern mit ihrer damaligen Entscheidung. „Wir machen regelmäßig Telefonkonferenzen mit Spenderfamilien", sagt sie. Kritik an ihrer Arbeit begegne ihr selten. Nur einmal, bei einer Schulung für Pflegepersonal. Ob sie kein schlechtes Gewissen hätte, ihren Bruder ausschlachten gelassen zu haben, ist sie gefragt worden. Und hat geantwortet: „Nein, denn da wo er jetzt ist, braucht er die Organe nicht mehr." Marita Donauer rät jedem Menschen, sich die Frage zu stellen: „Würde ich selbst ein Organ annehmen? Falls ja, dann sollten Sie auch bereit sein, zu spenden." Man sollte sich immer vergegenwärtigen: Die Wahrscheinlichkeit, selbst ein Spenderorgan zu brauchen ist geringer, als selbst einmal zum Spender zu werden.
Auch Angehörige von Organempfängern melden sich bei ihr. Marita Donauer erzählt von dem Vater, der ein Problem mit seinem kleinen nierentransplantierten Sohn hat. „Für mein Sohn musste ein Kind sterben", sagte er ihr. Sie erklärte ihm, dass der Organspender sicher an einer schlimmen Krankheit gestorben sei und nicht etwa für sein Kind. Und sie riet dem Vater, den Eltern des verstorbenen Kindes einen Brief zu schreiben.
Was wohl bald wieder möglich sein wird. Denn das Netzwerk setzt sich auch politisch für die Angehörigen von Organspendern ein. „Durch die Vermittlung von Professor Sester von der Uniklinik Homburg konnte ich der saarländischen Gesundheitsministerin Bachmann unseren Wunsch vortragen, die Briefe von Organempfängern wieder anonymisiert über die DSO weiterleiten zu dürfen." Bachmann machte sich auf der Landesministerkonferenz für das Anliegen stark. Auch Bundesgesundheitsminister Spahn konnte den Wunsch nachvollziehen. Im neuen Gesetzentwurf zur Strukturverbesserung der Organspende (siehe Seite 18) ist jetzt ein entsprechender Passus enthalten. Er wird in den Medien meist übersehen – doch für Marita Donauer und viele weitere Angehörige von Spendern und Empfängern bedeutet dieser kleine Gesetzesabschnitt sehr viel. Weil der Brief des anonymen Lungenpatienten ihr bis heute so viel bedeutet.