Marco Reus hatte schon immer das Potenzial, einer der besten Fußballer Europas zu sein. Viele Verletzungen verhinderten dies. Mit 29 Jahren befindet er sich nun auf der Aufholspur – und sorgt als Leader dafür, dass Borussia Dortmund Meister werden kann.
Marco Reus ist schon 29 Jahre alt. Er ist nur ein halbes Jahr jünger als Mats Hummels und vier Monate älter als Thomas Müller, die gefühlt schon ewig dabei sind. Und bei denen derzeit sowohl beim FC Bayern als auch in der Nationalmannschaft darüber diskutiert wird, ob sie nicht über den Zenit hinaus sind. Bei Marco Reus haben viele aber das Gefühl, seine Karriere beginne gerade erst so richtig. Und irgendwie ist dieses Gefühl gar nicht so falsch.
Begründet ist es in der Vergangenheit. Denn während Hummels 70 Länderspiele hat und Müller sogar schon 100, sind es bei Reus gerade einmal 37. Hummels hat bereits vier große Turniere gespielt, bei Müller sind es sogar schon fünf. Bei Reus waren es nur zwei. Als Hummels und Müller 2014 Weltmeister wurden, war Reus verletzt – wie so oft. Und er liegt auch insgesamt mit den Titeln weit hintendran: Müller gewann 15, Hummels immerhin sechs, bei Reus ist es ein einziger: der DFB-Pokalsieg 2017.
Der zweite Grund für den Eindruck, dass Reus erst am eigentlichen Beginn seiner Karriere steht, sind die aktuellen Umstände. Denn noch nie passte bei ihm alles so gut zusammen wie diesmal. Nicht nur die Gesundheit. Doch dass die das wichtigste ist, ist für Reus mehr als nur ein Spruch. 25 Verletzungen, die Trainings- oder Spielpausen nach sich zogen, listet das Portal transfermarkt.de in seiner Verletzungshistorie seit 2014 auf. Und dabei handelte es sich wahrlich nicht nur um Lappalien, sondern unter anderem um einen Syndesmosebandanriss mit 66 Tagen Ausfall-Dauer, einen Außenbandriss im Sprunggelenk (45), eine Schambeinentzündung (176), einen Muskelbündelriss (38) und einen Kreuzbandriss (220). Allein diese fünf Verletzungen kosteten Reus rund zwei Jahre seiner Karriere – die Zeit, um immer wieder richtig fit zu werden, gar nicht erst mitgerechnet. Seit April pausierte er nun jedoch nur einmal für zehn Tage wegen Knieproblemen in einer Länderspiel-Pause. Also eher eine Zeit zum Durchschnaufen als eine, die ihn wirklich zurückgeworfen hätte.
„Der beste Trainer, den ich je hatte"
Und diese für Reus durchaus lange Phase ohne gesundheitlichen Rückschlag kommt in einer für ihn ohnehin passenden Phase. Denn nach einer schwachen Vorsaison des BVB mit einem wieder einmal lange verletzten Reus und nach einer enttäuschenden WM – nach der Reus aber immerhin eine unerwartet lange Vorbereitung hatte – wendeten sich für ihn im Sommer extrem viele Dinge zum Guten. In Lucien Favre verpflichtete sein Verein Borussia Dortmund eben jenen Trainer, der ihm einst bei Borussia Mönchengladbach zum großen Durchbruch verholfen hatte. Nachdem er in seiner Geburtsstadt Dortmund beim BVB einst in der B-Jugend aussortiert wurde, wurde Reus in Gladbach sieben Jahre später Deutschlands Fußballer des Jahres. Und die Borussia ließ sich die Rückholaktion des verlorenen Sohnes stolze 17 Millionen Euro kosten. „Fachlich und menschlich ist er der beste Trainer, den ich je hatte", sagt Reus über den Schweizer Favre. „Er ist unheimlich detailversessen. Er zeigt dir, wie du verteidigen sollst, wo du richtig stehst, welchen Fuß des Mitspielers du anspielen musst."
Favre wollte Reus sogar schon 2009 zur Hertha holen, als dieser dann im Nachhinein vom Zweitligisten Ahlen nach Mönchengladbach wechselte. Er habe eine DVD von Reus gesehen und sich sofort mit ihm getroffen, berichtete Favre später. Am Ende habe ihn die Hertha aus finanziellen Gründen nicht verpflichtet. Gerüchte, wonach er sich damals gegen eine Verpflichtung von Reus ausgesprochen hätte, bezeichnete Favre schon vor Jahren als „dummes Zeug".
Aber egal, was vor fast zehn Jahren war. Heute steht fest: Reus ist Favre-Fan. Und Favre ist Reus-Fan. Deshalb unterstützte er wahrscheinlich die bereits begonnenen Gedankenspiele der BVB-Führung, ihn sechs Jahre nach der Rückkehr zum Kapitän zu machen. Marcel Schmelzer hatte das Amt nach der vergangenen Saison zur Verfügung gestellt. Manche waren skeptisch, ob Reus auch Kapitän kann. Zu oft wirkte er nur auf sich selbst konzentriert. Doch ist das ein Wunder nach all den gesundheitlichen Rückschlägen? Wenn man dauernd mit Skepsis gegenüber dem eigenen Körper umgehen muss, sich eigentlich ständig ran- und reinarbeiten muss, statt mal über ein oder zwei Jahre hinweg wie selbstverständlich zu spielen? Doch die Frage war auch: Konnte sich Reus von alledem lösen?
Denn für andere war er die einzig logische Variante. Als bekanntester und talentiertester Spieler des Vereins, geboren in der Stadt und inzwischen längst wieder dort verwurzelt, war er für die allermeisten Fans eine Traumbesetzung als Spielführer. In guten Phasen hatte Reus einige Anfragen von internationalen Top-Vereinen, darunter auch angeblich dem FC Barcelona, abgelehnt. Und im Gegenzug hatte der Verein seinen Vertrag während einer der schweren Verletzungen langfristig und hochdotiert verlängert. Club-Chef Hans-Joachim Watzke hatte Reus schon frühzeitig in Aussicht gestellt, er könne „der Uwe Seeler des BVB werden". Eine solche Besetzung als Kapitän ist natürlich eigentlich fast schon zu kitschig, um wahr zu sein. Und deshalb auch ideal.
Und wenn es klappen könnte, das war klar, dann unter Lucien Favre. Diesem von vielen als verkopft und kompliziert abgeurteilten Trainer, der aber den Zugang zu diesem manchmal verschlossenen Marco Reus gefunden hatte wie noch kein anderer Coach. Der ihn auf und abseits des Feldes zu führen wusste. Der ihm wie selbstverständlich seine Traumposition als hängende Spitze übergab und ihm gleichzeitig verständlich klarmachen konnte, warum er das eine oder andere Mal im Sturmzentrum spielen musste. Sein grundsätzliches Urteil: „Er hat sehr viel Spielintelligenz, er kann den Unterschied machen." Letzteres ist eigentlich das Beste, was ein Trainer über einen Spieler sagen kann.
Nun, nach weniger als einem halben Jahr, lässt sich sagen: Borussia Dortmund mit Marco Reus als Kapitän ist in der Tat eine Traumbesetzung. Anfang Dezember führte der BVB die Bundesliga-Tabelle an. Ungeschlagen, mit sieben Punkten Vorsprung auf den Zweiten Gladbach und neun Zähler vor dem Serienmeister FC Bayern. Und Reus lag in allen persönlichen Ranglisten weit, weit vorne. Er belegte Platz zwei der Torjägerliste, stand wegen ausreichend Vorlagen auch auf Rang zwei der Scorer-Wertung und war in der Notentabelle des Fachblatts „Kicker" der drittbeste Feldspieler der Liga.
Die Gründe dafür sind vielfältig und doch ganz einfach. „Ich fühle mich wohl, spiele auf meiner Lieblingsposition. Momentan klappt viel", sagt Reus. Und vor allem: „Ich fühle mich jetzt endlich topfit und richtig gesund." Und so urteilt Ottmar Hitzfeld, der frühere Meistertrainer der Dortmunder und des FC Bayern: „Wir erleben den besten Reus, den wir je gesehen haben."
„Ich fühle mich endlich topfit"
Vor allem aber hat ihn das Kapitänsamt (im Gegensatz zu Schmelzer in den letzten Monaten) bisher nicht erdrückt, sondern zusätzlich gepusht. Mit 29 sollte man das auch irgendwie hinbekommen können, sagt Reus lächelnd: „Ich bin älter geworden und werde bald Vater – da wird man reifer."
Das Geheimnis dieses Erfolges: Marco Reus verbiegt sich nicht. Er ist nicht der eloquente Spielanalyst wie es Mats Hummels war. Und erst recht kein Alphatier wie der von vielen als Symbol der „alten Kapitäns-Garde" angesehene Stefan Effenberg. Marco Reus läuft nicht wild gestikulierend über das Spielfeld, staucht keine Kollegen zusammen und grätscht auch keinen Gegenspieler mit zwei gestreckten Beinen weg, um die Kollegen aufzurütteln. „Er ist keiner, der in der Kabine lange Predigten hält", berichtet auch Manager Michael Zorc. „Er geht auf dem Rasen voran."
Das imponiert den jungen Spielern, für die Reus ein ideales Vorbild und ein idealer Anker ist. Sie haben ihn schon spielen und zaubern sehen, als sie noch kleine Jungs waren. Seine Fähigkeiten sind unbestritten. Fit, da sind sich die Experten einig, hätte Marco Reus den internationalen Fußball wohl über Jahre mitgeprägt. Nun ist er erfahren, hat schon einiges erlebt. Ist aber gleichzeitig durch Rückschläge geerdet und mit nur einem Titel erfolgshungrig wie ein Jungspund. Für junge Spieler ist er gleichzeitig Vorbild und nahbarer Kumpel. Autoritätsperson und großer Bruder in einem. „Wir haben ein ganz besonderes Verhältnis", sagte auch der 18 Jahre alte Shootingstar Jadon Sancho. Und Reus gibt das Lob postwendend zurück. „Wenn du solche Straßenfußballer wie Jadon oder Jacob Bruun Larsen hast, macht es echt Spaß", sagte er. Und stellte nach dem 3:2-Sieg im Gipfeltreffen gegen den FC Bayern fest: „Das war richtiger BVB-Fußball. Das hat richtig Bock gemacht. Ein geiles Spiel." Es wirkt, als würde die Karriere des Marco Reus wirklich ein zweites Mal beginnen.