40 Millionen verkaufte Tonträger, 600 Platin- und Gold-Auszeichnungen und jährlich eine Million Konzertbesucher: André Rieu ist der erfolgreichste Violinist der Welt. 2019 geht der 69-Jährige wieder mit seiner Stradivari von 1732 und einem 50-köpfigen Orchester auf Tour. Ein Interview über Erfolg, das Highsein und den Sinn von Musik.
Herr Rieu, kürzlich verstarb Ihr Lehrer Herman Krebbers. Er bildete viele namhafte Geiger aus. Was haben Sie speziell von ihm gelernt?
Hermann Krebbers war ein großartiger Violinist, ein sehr freundlicher Mensch und hochtalentiert. Er brachte mir die Freude am Violinenspiel bei. Wenn man selbst diese Freude fühlt, kann man diese Gefühle auch dem Publikum zeigen. Krebbers war mein größtes Vorbild. Ich wollte immer sein wie er.
Herman Krebbers wurde 95 Jahre alt. Ist die Musik auch Ihr Jungbrunnen?
Absolut! Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Musik glücklich macht. Sowohl miteinander zu musizieren, also auch Musik zu hören. Eines meiner Lieblingsbücher ist „Singing in the Brain" vom niederländischen Wissenschaftler Erik Scherder. Darin geht es um die Zusammenwirkung von Musik und Gehirn. Echt faszinierend! Was glücklich macht, hält aktiv, und Aktivität hält jung. Man hört nie auf, Künstler zu sein. Man kann bis ins ganz hohe Alter musizieren, malen, schreiben. Und ich habe beschlossen, mindestens 120 Jahre alt zu werden.
Üben Sie heute noch genauso viel wie in Ihrer Kindheit und Jugend?
Nein. In meiner Kindheit und Jugend gab es eigentlich nur eins: lernen, lernen, lernen. Meine gesamte Jugend verbrachte ich zwischen Schule und Geigenstunde. Dazu hatte ich Klavier, Oboen und Flötenunterricht. Ich habe dann zunächst in Maastricht und Lüttich studiert und später in Brüssel. In Deutschland habe ich den berühmten ungarischen Geigenpädagogen André Gertler kennengelernt und wurde nach einer strengen Auswahlprüfung in seine Klasse aufgenommen. Er war ein ganz besonderer Mensch und ein ausgezeichneter Lehrer, und hat mich – wie Hermann Krebbers – sehr geprägt. Natürlich übe ich auch heute noch, aber nicht mehr so viel wie damals. Ich spiele die Geige jetzt seit 64 Jahren, und mit rund 90 Konzerten pro Jahr kommt man nicht so schnell aus der Übung!
Haben Sie einen Tipp, wie Eltern ihre Kinder für den Instrumentalunterricht begeistern können?
Zum einen hilft es, wenn die Musik zu Hause eine positive Rolle spielt, und der Unterricht sollte vor allem Freude machen. Ich denke, es ist wichtig, auf sein Kind zu hören. Welches Instrument möchte es gerne lernen? Welches macht ihm Spaß? Bei mir war das immer die Geige. Ich konnte als Kind mit Klavier überhaupt nichts anfangen. Und dann braucht man einen guten Lehrer beziehungsweise eine gute Lehrerin. Wenn man sich dann noch in den Lehrer verliebt, hilft das ungemein, haha! Dann übt man besonders viel. Meine erste Geigenlehrerin war eine 18-jährige Blondine, ich war als kleiner Junge total fasziniert von ihr.
Ist Ihnen als Sohn eines Dirigenten das Üben leicht gefallen?
In meiner Kindheit war Musik vor allem Arbeit. Mein Vater war Dirigent und sehr streng. Alle meine Brüder und Schwestern haben mehrere Instrumente gelernt. Ich dachte einfach, das wäre überall so. Ich habe meine Mitschüler gefragt, welche Geige sie spielen. Meine Frau und ich haben unsere Söhne dann offener erzogen, ohne Zwang. Irgendwann hat Pierre seine Geige auf dem Kopf von Marc zerhauen, das war es dann mit dem Musikunterricht.
Braucht man einen höheren Level an Intelligenz, um Klassik zu spielen?
Das ist eine ganz gefährliche Frage, weil sie die klassische Musik sofort in eine elitäre Ecke steckt. Sie suggeriert Kindern: „Du kannst das aber nicht" oder „das ist nichts für dich" oder „wenn Du das machst, bist du besser und intelligenter als die anderen". Man braucht Leidenschaft! Und um ein wirklich guter Musiker zu sein, braucht man neben allen technischen Fähigkeiten vor allem Emotionen. Gefühle sind wichtig. Musik ist kein Wettbewerb!
Warum brauchen wir Musik?
Weil Musik da beginnt, wo Worte aufhören. Musik verstärkt unsere Gefühle. Durch Musik wird Schönes schöner und Furchtbares erträglicher. Unabhängig davon, ob ein Stück von J. S. Bach oder Michael Jackson geschrieben wurde. Die Musik ist ein Freund fürs Leben, weil sie dich nie verlässt. Und sie verbindet, bringt Menschen zusammen und überwindet Gegensätze. Zu meinen Open-Air-Konzerten in Maastricht im Juli kamen 150.000 Menschen aus über 80 Ländern. Die haben alle zusammen gefeiert, Jung und Alt.
2018 waren Sie unter anderem in den USA, Australien und England. Ist das Touren für Sie zur Sucht geworden?
Der Begriff „Sucht" hat etwas Negatives, finde ich. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Touren war immer mein Traum. Ich wollte immer mit meinem eigenen Orchester um die Welt reisen. Mein Orchester ist meine große Familie. Viele meiner Musiker sind bereits seit über 25 Jahren bei mir. Dieses Jahr haben wir auf fünf Kontinenten gespielt. Zusammen die Welt zu sehen und viele Menschen mit unserer Musik glücklich machen zu können, ist etwas Wunderbares. Aber wir sind nie länger weg als zwei Wochen am Stück. Ich bin mindestens die Hälfte des Jahres zu Hause.
Was haben Sie sich für die Deutschland-Österreich-Schweiz-Tournee 2019 vorgenommen?
Es ist Tradition, dass diese Konzerte im Januar, Februar und jetzt auch im Mai stattfinden. Wir beginnen in Deutschland jedes Jahr unsere neue Welttournee. Es wird ein völlig neues Programm, natürlich mit den schönsten Walzern, Musik aus Musical, Oper und Operette sowie bekannte Schlager. Das Schöne ist, mein Publikum weiß vorher nie, was wir spielen werden. Aber es weiß, wir haben einen Abend zusammen, den wir nie vergessen werden. Meine Konzerte enden immer in einer großen Party. Humor ist mir ganz wichtig!
Spielen Sie auf Ihrer Tournee auch eine echte Uraufführung?
Auf dieser Tournee nicht. Wenn ich in der Vergangenheit eine Uraufführung gespielt habe, dann waren es meine eigenen Kompositionen – meistens für eine TV-Aufzeichnung oder eine CD-Aufnahme. Leider komme ich aus zeitlichen Gründen nicht mehr oft zum Komponieren. Auf Tour liebe ich es, Menschen mit Musik zu überraschen, die sie bereits kennen, aber vielleicht schon sehr lange nicht mehr gehört haben.
Nach welchen Kriterien stellen Sie Ihr Programm zusammen?
Viele dieser wunderbaren Stücke, wie zum Beispiel die Ballade „Pour Adeline", „Amazing Grace", „An der schönen blauen Donau" oder Stücke aus Musicals sind in Konzerten anderer Orchester nur sehr selten live zu hören. Dabei lieben die Menschen sie! Zu denken, dass ein weltbekanntes Stück automatisch auch oft aufgeführt wird, ist ein Irrglaube. Ich spiele ja nicht nur Walzer, sondern ab und zu auch romantische Popsongs oder Balladen. Die mal mit Orchester zu hören, ist schon sehr schön!
Entdecken Sie in der Musik von Johann Strauss immer wieder Neues?
Absolut, ja! Johann Strauss ist mein Lieblingskomponist, und „An der schönen blauen Donau" mein Lieblingswalzer. Die Donau ist das einzige Stück, das ich in jedem meiner Konzerte spiele. Die Menschen springen dann aus ihren Sitzen und fangen an, zu tanzen. In den USA, Polen, Mexiko, Australien … überall. Natürlich auch in Deutschland!
Wann haben Sie das letzte Mal ein Konzert erlebt, das ganz besonders glückhaft war?
Es ist immer das letzte Konzert. Buenos Aires im Oktober war fantastisch. Ich bin sicher, Australien wird das auch sein, und auf Großbritannien und Deutschland freue ich mich besonders. Wir brauchen nach dem Konzert selbst eine Weile, um wieder runterzukommen. Ich bekomme Briefe von Fans, die sagen, sie waren nach einem Konzert zwei Wochen richtig high.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihrer Wunschinterpretation vielleicht noch ein Stückchen näher gekommen zu sein?
Ja klar, vor allem in meinem Studio bei den Proben für eine neue CD oder für eine Tour. Natürlich experimentieren wir mit verschiedenen Arrangements oder Instrumenten. Ich probe mit den Sängern und dem Chor, bis ich wirklich ganz glücklich bin und alles perfekt ist.
Was braucht es genau für eine glückhafte Interpretation eines Stücks?
Neben gewissen technischen Fähigkeiten vor allem Gefühl. Und man muss selbst Spaß an der Sache haben. Wenn ich von meinem Spiel nicht selbst überzeugt bin und das auch ausstrahle, wie soll es dann mein Publikum genießen?
Machen Sie bei Konzerten manchmal auch Dinge, die nicht geplant sind?
Klar! Vieles entsteht spontan. Weniger musikalisch, aber es gibt zwischenmenschliche Reaktionen, Überraschungen. Deswegen mag ich auch das Wort Show nicht. Eine Show kann man am Broadway sehen, 20 Mädels, die alle das Gleiche machen. Wir sind authentisch, und dazu gehört, dass es immer wieder Überraschungen gibt. Das Ungeplante ist manchmal das Schönste!
Waren Sie selbst nach einem Konzert auch schon mal unzufrieden mit sich, dass Sie es im Nachhinein lieber nicht gegeben hätten?
Haha, nein. Aber ich bin vor jedem Konzert schrecklich nervös.
Wie anstrengend ist das Spielen körperlich?
Ein dreistündiges Konzert zu geben, ist natürlich anstrengend. Denn ich spiele ja nicht nur, sondern dirigiere auch und moderiere. Ich führe durch den Abend. Aber – und das ist der Grund, warum ich immer mein eigenes Orchester haben wollte – ich kann mein Programm selbst gestalten. Die Stücke, die ich wähle, geben mir und dem Publikum viel Energie. Ich fände es persönlich schrecklich, in einem Sinfonieorchester sitzen zu müssen und Tag für Tag Musik zu spielen, die ich nicht selbst auswählen kann und die ich vielleicht gar nicht mag. Am Anfang meiner Karriere als Musiker war ich einige Jahre in einem Sinfonieorchester. Ich habe mich dort wirklich allein gefühlt. Wenn man die Freude an seiner Tätigkeit verliert, wird alles anstrengend. Ich aber arbeite nicht, ich habe Spaß!
Sie gelten als einer der erfolgreichsten Violinisten der Welt. Was verstehen Sie selbst unter Erfolg?
Es gibt mehrere Arten von Erfolg. Zum einen den theoretischen, also 40 Millionen verkaufte CDs, 600.000 Tickets pro Jahr. Das ist die Sorte Erfolg, die mir die finanzielle Sicherheit gibt, weiterzugehen. Ich bin verantwortlich für über 110 fest angestellte Mitarbeiter und deren Familien. Dann gibt es den emotionalen Erfolg, den sehe ich jeden Abend vor mir. Das ist der, der mich wirklich erfüllt, mich wirklich glücklich macht. Ich habe mit sechs Musikern angefangen, bei kleinen Festen zu spielen. Heute sind es über 60 Orchestermitglieder.
Wie wurden Sie entdeckt?
Viele Manager, Agenten oder Plattenfirmen haben früher nicht an mich geglaubt. Sie sagten: „Geh nach Hause und spiel für deine Großmutter". Nur meine Frau Marjorie hat mich immer bedingungslos unterstützt. Vor 25 Jahren kam dann der große Durchbruch, und 2008 habe ich in Melbourne vor 38.000 Menschen das größte Konzert meiner Karriere gegeben. 2018 war eines der erfolgreichsten Konzertjahre meines Lebens. Dass wir das zusammen geschafft haben, erfüllt meine Frau und mich mit großer Dankbarkeit und auch Stolz.
Welchen Traum möchten Sie sich unbedingt noch erfüllen?
Ich würde wahnsinnig gerne einmal auf dem Mond spielen!