Die Aufmerksamkeit für soziale Themen hält allenfalls für kurze Zeit, kritisiert Christoph Butterwegge. Der bekannte Armutsforscher warnt vor politischen Folgen durch Abstiegsängste und Entfremdungsprozesse, die sich zunehmend auch in der arbeitenden Mittelschicht bemerkbar machen.
Herr Butterwegge, mit Ihrer Kandidatur für die Linken zur Bundespräsidentenwahl im Jahr 2017 wollten Sie auch die Themen „Armut" und „Spaltung der Gesellschaft" in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen rücken. Hat das, im Nachhinein betrachtet, etwas bewirkt?
Während meiner Kandidatur hatte ich durchaus den Eindruck, dass diese Thematik stärker in der Öffentlichkeit präsent war. Ob sich dieser Teilerfolg als nachhaltig erweist, ist eine ganz andere Frage, und da bin ich eher skeptisch. Die Sensibilität für die sozialen Probleme in Deutschland ist relativ gering. Ich fühle mich da häufig auch noch als Rufer in der Wüste. Man kann anhand neuerer Untersuchungen, offizieller Statistiken oder des jeweils aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung immer wieder darauf hinweisen. Dann gibt es Medienaufmerksamkeit, aber immer nur für kurze Zeit, bis sich das Interesse wieder auf andere Dinge richtet. Man bekommt es kaum hin, dass kontinuierlich darüber berichtet wird und damit auch Druck entsteht, an den ungleichen Verteilungsverhältnissen etwas zu ändern. Genau das war aber die Hauptmotivation zu meiner Kandidatur für das höchste Staatsamt.
Wie stellt sich die Entwicklung seither aus Ihrer Sicht dar? Reden wir nach wie vor über das gleiche Phänomen?
Nun ja, die Reichen sind noch reicher geworden und die Armen zahlreicher. Die soziale Ungleichheit wächst, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Damit wachsen natürlich auch die Probleme, insbesondere Entfremdungserscheinungen von betroffenen Gruppen. In der Mittelschicht grassiert eine wachsende Angst vor dem sozialen Abstieg. Darauf führe ich die Erfolgsserie der AfD mit zurück: dass sich Menschen aus Angst, zwischen oben und unten zerrieben zu werden, einer rechtspopulistischen Partei nähern, in der Hoffnung, dass diese gegen die korrupten Eliten einerseits und die faule Unterschicht andererseits konsequenter vorgehen werden. Das ist ja der programmatische Markenkern der AfD, die Mittelschichtideologie des Rechtspopulismus. Ich habe das gerade für ein Buch untersucht (Anm. der Redaktion: „Rechtspopulisten im Parlament"). Es ist nämlich nicht so, wie Alexander Gauland behauptet, dass die AfD eine „Partei der kleinen Leute" ist, sie tritt vielmehr als Partei des großen Geldes auf. Nicht nur in der Steuerpolitik und der Sozialpolitik, sondern auch, was ihre Finanzierung und mysteriöse Geldzuwendungen aus dem Ausland angeht. Es ist klar, dass die Interessen von Hartz-IV-Empfängern bei der AfD keine Rolle spielen. Armut und soziale Probleme werden entweder geleugnet oder als reines Ausländerproblem und bloßes Importprodukt betrachtet. Das verkennt natürlich, dass Armut und Reichtum strukturelle Probleme sind, was man in dieser Gesellschaft angehen kann und muss, aber nicht durch Abschottung nach außen lösen kann.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles hat angekündigt, ihre Partei wolle „Hartz IV" hinter sich lassen und das soziale Profil schärfen. Ist das ein Hinweis, dass sich etwas ändert?
Gut ist, dass Bewegung in die Hartz-IV-Diskussion kommt. Man hat aber nicht den Eindruck, dass es bei der SPD zu einem Neuanfang, einem wirklichen Aufbruch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik reicht. Die soziale Gerechtigkeit müsste noch stärker in den Mittelpunkt der Partei und ihrer Programmatik rücken, verbunden mit Glaubwürdigkeit und Gradlinigkeit. Wenn Olaf Scholz (Anm. der Redaktion: Bundesfinanzminister, SPD) kurz nach der Bundestagswahl zwölf Euro Mindestlohn fordert, aber nicht im Wahlkampf selbst, dann ist das zwar ein richtiger Ansatz, Erwerbsarmut zu bekämpfen. Aber man bekommt das Gefühl, dass es nicht wirklich von Herzen kommt, sondern politische Taktik ist. Ich glaube, dass die Stimmenverluste auch daran liegen, dass man so wenig das Gefühl hat, dass die SPD mit Leib und Seele an ihre alten Traditionen anknüpft. Sie dümpelt so vor sich hin. Wenn dann eine Vorsitzende gewählt wird – zum Glück zum ersten Mal eine Frau in der langen SPD-Geschichte –, aber eben auch eine Funktionärin, die schon jahrzehntelang zur Parteispitze gehört, stellt sich auch personell nicht das Gefühl von Neuanfang ein. Kurzum, die SPD hat noch kein Konzept gefunden, um aus ihrer Krise herauszukommen.
Wahlkampfstrategen sagen: Armut ist kein Gewinner-Thema, weil man in eine Zwickmühle kommt. Einmal der Vorwurf: Ihr kümmert euch ja nur um die, die kriegen alles. Umgekehrt: Empfänger sind nicht ausreichend dankbar und wählen mich. Was also tun?
Ich empfehle der SPD nicht, stärker auf soziale Gerechtigkeit zu setzen, um damit Arme und Obdachlose anzusprechen. Es geht doch auch um die Mittelschicht mit ihrer Angst vor dem sozialen Abstieg. Ich denke, dass Angehörige der Mittelschicht, gerade der unteren Mittelschicht, sehr sensibel dafür sind, ob eine Partei ihre Interessen glaubhaft vertritt. Das Argument des Parteimanagers, dass dann die Armen nicht in Scharen zur Wahl gehen, ist wahrscheinlich richtig. Aber das kann auch nicht das Ziel sein, denn Arme haben ganz andere Sorgen. Es geht darum, die Angst vor Abstieg ernstzunehmen, und ernstzunehmen, dass sich das Land immer stärker sozial spaltet, was ja auch Konsequenzen in anderen Bereichen hat. Die soziale Spaltung führt auch zu einer politischen Spaltung: einmal in die, dass Menschen aus Angst oder Enttäuschung nicht mehr zu Wahlen gehen, was zu einer Legitimationskrise führt. Und zum anderen wird der Rechtspopulismus gefördert, weil er einen materiellen Nährboden findet für seine demagogische Agitation und Propaganda.
Zuletzt ist ja viel über die Krise der Volksparteien diskutiert worden, auch in Folge der Wahlergebnisse. Das führt zur Frage: Brauchen wir überhaupt Volksparteien?
Nein. Volksparteien in dem Sinn, dass sie alle Schichten der Bevölkerung möglichst ausgewogen vertreten, brauchen wir nicht. Es täte der Demokratie ganz gut, wenn Parteien ein klareres Profil hätten und nur bestimmte Teile der Bevölkerung vertreten würden. In Deutschland tut das hauptsächlich die FDP, die klargemacht hat, dass sie eine bestimmte Klientel vertritt. Das könnten andere Parteien wie die SPD auch tun. Wenn man den Anspruch erhebt, Volkspartei zu sein, muss man zumindest die offensiv vertreten, die sozial benachteiligt sind. Das wäre für mich der Begriff „Volkspartei", auch in Abgrenzung zur AfD, die eine völkisch-nationalistische Partei mit einem wirtschaftsliberalen Flügel ist. Interessen derer zu vertreten, die durch die neoliberale Politik aus dem Blickfeld geraten sind, wäre dringend notwendig. Denn dass sich die Unterschicht vernachlässigt fühlt, hat wesentlich mit den Agenda-Reformen und Hartz-Gesetzen zu tun, die vor allem gegen jene Menschen gerichtet waren, die Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Deren Interessen sind kaum vertreten worden, und das müsste eine linke Volkspartei tun.