Ein neues Lokal ist spannender als das Pensionärs-Dasein. Dachte sich Wirt Agostino Talo und führt seine italienische Trattoria-Küche in der Suarezstraße fort. Das „Mille Lire" lässt die kulinarische Tradition seines ehemaligen Lokals am Hackeschen Markt seit einem halben Jahr in Charlottenburg wieder aufleben.
Er konnte es doch nicht bleiben lassen. Agostino Talo ist wieder da. Zum Jahresanfang schloss er seine kleine, beliebte und belebte „Osteria Tarantina" am Hackeschen Markt. Nun ist er zurück und zwar mit dem noch ein bisschen kleineren „Mille Lire" in der Charlottenburger Suarezstraße, direkt am U-Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz. Es hat also doch nicht so gut geklappt mit dem Sich-Selbst-Pensionieren und dem Rückzug in den eigenen Garten – zum Glück für seine Gäste, die „ihren" Lieblingsitaliener ohnehin vermissten.
Wir hatten bereits Wetten darauf abgeschlossen, wie lange Agostino Talo es so ganz ohne eigenes Lokal aushalten würde. Mit seinen 73 Jahren wäre er durchaus im Kürzertreten-Alter. Aber dieser Schritt erschien uns schlicht undenkbar. Talo ist Gastwirt und Koch durch und durch, der einfach ein eigenes Lokal als Fixpunkt seines Seins braucht, meinten wir.
Das mit dem Kürzertreten hat er mit der Verlegung seines Lokals näher an seine Wohnung heran in vertretbarem Rahmen immerhin erledigt. Uns als Gästen ist der Genuss seiner bodenständigen italienischen Küche mit Antipasti, Pasta, Fisch- und Fleischgerichten seit Ende August 2018 nun wieder möglich. Außer sonntags, wenn er und seine beiden Mitarbeiter Pause machen von der Zubereitung von Tagliatelle con Salmone, Calamari Fritti und Tiramisu. Ja, in der Küche werden Italiens Klassiker zum Liebhaben und Wohlfühlen zubereitet – nicht fancy, aber produktbezogen. Einfach und verlässlich den Wohlfühlnerv treffend.
Gerichte wie die Zuppa di Pesce, in der sich Miesmuscheln, Dorade, Zander, Garnelen und Tintenfische in einem tomatigen Sud tummeln. Eine Aroma-bombe für 9,50 Euro. Sie entlockt der Begleiterin die zackige Aufforderung: „Das war jetzt total lecker. Weiter!" Hoppla, da waren wohl die eingelegten grünen Oliven, Brot und Olivenöl zum Einschwingen nicht ausreichend. Und wir haben noch die Platte mit den Antipasti Misti auf dem Tisch stehen: Vitello Tonnato, Prosciutto gekocht und roh, Salami, ein klassisches Rinder- und ein Lachs-Carpaccio sowie eingelegte Gemüse möchten bittschön zu Ende verzehrt werden.
Die Pizza vermisst niemand ernsthaft
Nur Pizza ist jetzt nicht mehr auf der Karte, obwohl sogar ein Ofen vorhanden wäre. Das Lokal war zuvor der Event-Raum eines italienischen Restaurants schräg gegenüber; die Küche wurde lange nicht genutzt. „Der Ofen passt mit seiner Abluft und den Bestimmungen in einem Wohnhaus so jetzt nicht mehr", sagt Talo. Die Pizza vermisst niemand ernsthaft, der sich einmal über die Fischsuppe oder etwa die Tagliatelle mit Steinpilzen hergemacht hat. „Ich brauche keinen Schinken dazu", meint die Begleiterin, die mit Pilzen und Trüffelöl zu Pasta und Cherrytomaten happy ist. „Ich schon!", meine ich zurück. Das weiche Umami vom Parmaschinken gibt eine erfreuliche Extranote. Und überhaupt ist alles schließlich Geschmackssache.
Einig sind wir uns, auch mit unserem italienischen Fotografen im Trio, ohnehin sofort: „Ins ‚Mille Lire‘ geht man, wenn Mama den Ofen kalt lässt." Alles passt so zusammen, wie es sich für eine Trattoria gehört: die wohnzimmerige Atmosphäre, in der sich 30 Plätze verteilen, die braun-weiß karierten Tischdecken, der Hauswein in Karaffen. Und Gäste, die genau das tun, was man von ihnen erwartet: Sich mit Agostino und seinen Mannen über den Tresen hinweg herzlich zurufen oder ein kleines Kind zur Beruhigung auf dem Arm umhertragen, bevor es am Tisch mit dem Essen weitergeht. Das „Mille Lire" ist ein an Quadratmetern kleiner, an Herzlichkeit und Genussfreude aber ziemlich weiter Raum. Noch etwas ist am neuen Ort anders, wie Talo überrascht beobachtete: „Wenn’s voll war, setzte man sich in Mitte einfach dazu. Das macht man in Charlottenburg nicht."
Wahrscheinlich weiß Talo, der immer mittags und abends im Lokal ist, nun auch in Charlottenburg längst auswendig, was seine Stammgäste am liebsten bestellen. Ich gebe ihm keine Chance, das auszuprobieren, sondern rufe sofort aus: „Die Saltimbocca, die müssen wir essen!" Frage, ob’s die viel gerühmte Zabaione als Dessert immer noch gebe. Gläser mit Pannacotta und Tiramisu stehen in der gläsernen Theke. Aber die halbwarme, schaumige Zabaione mit frischem Ei und Süßwein muss à la minute aufgeschlagen und serviert werden.
Also widmen wir uns erst einmal dem Fleisch und dem Fisch. Die Saltimbocca alla Romana ist ordnungsgemäß vom Kalb, mit Parmaschinken gefüllt und Salbeiblatt. Der Fotograf ist insbesondere von der Weißweinsoße angetan: „Da sind Salbei und Rosmarin drin, wie sie hineingehören." Ein paar Kartoffeln, gedünsteter Brokkoli, Möhren und Paprika treten den Beweis an, dass italienische Hausmannskost keineswegs sahnesoßennschwer daherkommen muss. Es soll aber auch keiner behaupten, die Portionen wären schickimicki-klein geraten. Deshalb gönnen wir uns zu dritt, neben der Saltimbocca für 18,50 Euro, nur noch eine Portion Doradenfilet mit Pinienkernen. Die bewährte Begleitung aus Kartoffeln, Möhren und Broccoli darf erneut mitspielen und sich von Weißweinsoße benetzen lassen. Soßen können die Herren, auch darin sind wir uns einig. „Mille Lire" müssen wir auch für diesen Teller nicht berappen – mit 12,50 Euro ist das „Filetto die Orata con Pinoli" von der Wochenkarte fair kalkuliert.
Die Preise sind fair kalkuliert
Die „Carta della Settimana" gibt Talo den Spielraum, mit frischen Produkten noch besser zu jonglieren. Sie ergänzt im Winter mit einer Rote-Bete-Suppe oder Entrecôte in Orangensoße saisonal die „ewigen Klassiker" wie eine Zuppa d’Aglio, eine Knoblauchsuppe mit Ei und Parmesan, oder die Spaghetti Putanesca mit Kapern, Oliven, Sardellen und scharfer Tomatensauce. Wer mag, kann Schinken aus der Theke oder Wein aus dem Regal auch für zu Hause kaufen; die Unterzeile „Feinkost" im neuen Restaurantnamen möchte bitte ernst genommen werden. Wir nehmen den einen oder anderen Schluck vom Montepulciano d’Abruzzo und vom etwas wuchtigeren Primitivo auf der roten Seite sowie vom Chardonnay und Pinot Grigio auf der weißen Seite der Hausweine zu uns. Aus den zahlreichen Weinen im Regal lassen sich auch andere auswählen, die offen oder flaschenweise ausgeschenkt werden.
Die Begleiterin und Agostino Talo fachsimpeln über Sand, Muscheln und die Zubereitung von Spaghetti Vongole. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem vorfreudigen Warten auf die Zabaione, die in der Küche unüberhörbar entsteht. Ob wir wollen oder nicht – und ja doch, eigentlich wollen wir genau das – erhalten wir zwei Portionen. Agostino Talo hat einen ganz pragmatischen Grund für das Mehr vom Guten: „Ein halbes Ei kann man nicht mit Marsala aufschlagen." In der noch einen Hauch warmen „Mille Lire"-Zabaione verbirgt sich eine kühle Überraschung, die die Gäste schon am Hackeschen Markt liebten: ein Vanilleeis-Kern, der mit der schaumigen Creme verschmilzt oder fix herausgelöffelt wird.
Der feinschmeckende Fotograf verrät kurz seine Mutter: „Die Zabaione war bei uns zu Hause immer zu süß. Da war zu viel Marsala drin." Bevor wir innerfamiliäre Verwicklungen heraufbeschwören, verabschieden wir uns lieber mit einem Espresso und dem dringenden Wunsch, bald wieder das gemütliche aushäusige Esszimmer aufzusuchen. Zum Abschied dreht Agostino Talo den üblichen Ablauf um: Er drückt uns einen Geldschein in die Hand. Die Visitenkarte mit dem aufgedruckten 1.000-Lire-Schein wird uns das „Mille Lire" gewiss nicht so schnell vergessen lassen.