In Deutschland wird zu viel über Umverteilung, zu wenig über Leistung geredet
Angesichts des bevorstehenden Brexits treiben Legenden und Mythen merkwürdige Blüten. SPD-Chefin Andrea Nahles kommt zu dem Schluss, dass Europa rasch Lehren aus dem wohl kaum noch vermeidbaren EU-Austritt Großbritanniens ziehen müsse. Arbeitnehmer bräuchten mehr soziale Sicherheit, fordert sie in einem Gastbeitrag. Sie schlägt einen „Pakt für gute Arbeit" vor, der zum Ziel hat, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit in allen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft zu gewährleisten. „Die Europäische Arbeitsbehörde muss zu einer durchschlagskräftigen Einheit werden, die grenzüberschreitende Kontrollen durchführt", heißt es in dem Text.
Nahles’ Brexit-Analyse geht völlig an der Realität vorbei. Sie glaubt, dass eine von oben verordnete Angleichung der Löhne und Steuern nationale Abspaltungstendenzen verhindern würde. Ein soziales Europa als Schutzwall gegen Rechtspopulismus, lautet die Devise. Mit Blick auf Großbritannien ist es genau andersherum. Die Mehrheit der Briten stimmte für den Brexit, weil sie eine Allergie gegen die zunehmende Brüsseler Bürokratie hatte –
also weniger, nicht mehr Vorgaben verlangte. Es war ein Votum gegen den europäischen Zentralismus.
Die Sache wird nicht dadurch besser, dass selbst in der CDU eine gewisse Staatsgläubigkeit um sich greift. So machte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble deutlich, dass er sich unter bestimmten Voraussetzungen eine europäische Arbeitslosenversicherung vorstellen kann. Warum soll das Geld deutscher oder schwedischer Steuerzahler in einen Topf fließen, um wirtschaftliche Schieflagen in Spanien, Italien oder Griechenland auszugleichen? Jene Länder wären vom Anreiz befreit, den eigenen Laden in Ordnung zu halten.
In eine ähnlich falsche Richtung geht der Vorstoß, den Osten Deutschlands mit groß angelegten Hilfsaktionen auf West-Niveau zu katapultieren. Die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, will Bundesbehörden in den neuen Ländern ansiedeln. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) trommelt dafür, Autobahnen und ICE-Verbindungen in die Braunkohleregionen zu bauen. Den wirtschaftlich strukturschwachen Osten brächte dies nicht entscheidend weiter. Die Wahrheit für den plötzlich aufsprudelnden Aktivismus ist: Die Etablierten haben Muffensausen vor der AfD. Die Aussicht, dass die Rechtspopulisten mit ihrer Angst-vor-dem-Abstieg-Kampagne bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst absahnen könnten, macht sie nervös.
All dies zeigt, dass die Debatte in Deutschland aus den Fugen geraten ist. Es gibt zu viele Umverteilungsvorschläge, die den Staat als den großen Regulator für mehr Gerechtigkeit sehen. Die CDU/CSU öffnete das soziale Füllhorn mit der Mütterrente, die SPD möchte Sanktionen bei Verstoß gegen Hartz-IV-Regeln abschaffen und stattdessen ein „Bürgergeld" einführen, die Große Koalition installierte ein Bau-Kindergeld für Familien. Kosten, Kosten, Kosten.
Aber kaum einer redet von Eigenverantwortung und Leistung. Es ist eine einfache Rechnung: Wer sich nicht frühzeitig um eine gute Ausbildung bemüht, darf sich nicht wundern, wenn er später materiell ins Hintertreffen gerät. Wer einen Beruf ergreift, der keine Zukunft hat oder kein auskömmliches Einkommen bietet, muss die Konsequenzen tragen. Und: Angesichts von Digitalisierung und Globalisierung führt kein Weg am lebenslangen Lernen vorbei. Anstrengung und Wettbewerb sind zwei Seiten einer Medaille.
Diese Zusammenhänge sind hierzulande aus dem Fokus geraten. Die unsägliche Diskussion über eine Beendigung des Solidaritätszuschlags unterstreicht dies. Die Große Koalition hat sich darauf geeinigt, den Soli 2021 für 90 Prozent der Beschäftigten abzuschaffen. Wer mehr als rund 55.000 Euro pro Jahr verdient, muss die Sonderabgabe weiterzahlen. Dies trifft auch auf etliche Facharbeiter oder Ingenieure zu, die man getrost als Leistungsträger der deutschen Wirtschaft bezeichnen darf. Das ist unfair. Denn diese restlichen zehn Prozent – in der Linken gerne als „Spitzenverdiener" etikettiert – schultern bereits mehr als 50 Prozent der gesamten Einkommensteuer.
Wohlgemerkt: Deutschland ist eine soziale Marktwirtschaft. Derzeit stimmt jedoch die Balance nicht mehr. Es wird zu viel über „Soziales" und zu wenig über „Marktwirtschaft" geredet.